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Emanzipatorische Identitäten

Judentum und Revolution: Der Weltverband »Poale Zion« zwischen Zionismus und Kommunismus

  • Ralf Hoffrogge
  • Lesedauer: 7 Min.

In diesem Jahr steht nicht nur der 100. Jahrestag der russischen Revolutionen vom Februar und Oktober 1917 an, sondern auch jener der Balfour-Deklaration vom 2. November 1917. In dieser versprach der britische Außenminister Lord Arthur James Balfour die Einrichtung einer »nationalen Heimstätte« des jüdischen Volkes in Palästina - noch bevor der britische General Edmund Allenby die Eroberung des osmanisch beherrschten Gebietes abgeschlossen hatte. Oktoberrevolution und Balfour-Deklaration fallen in die Endphase des Ersten Weltkrieges. Sie waren Stationen im Zerfall der europäischen Festlandsimperien: des Osmanischen Reichs, Österreich-Ungarns und des Russischen Zarenreiches. Dieser Auflösungsprozess war nicht das Ende des imperialen Zeitalters. Doch bedeutete das Jahr 1917 mit Kriegswende und Revolution eben nicht nur für die sozialistische Arbeiterbewegung ein Jahr des Sturm und Drangs, sondern auch für die unterdrückten Nationalitäten Ost- und Mitteleuropas. Sie pochten energischer denn je auf das »Selbstbestimmungsrecht der Völker«.

Ein Sonderfall war der Zionismus als jüdische Nationalbewegung. Denn die jüdische Bevölkerung verfügte noch weniger als andere »Nationen ohne Staat« über ein geschlossenes Siedlungsgebiet. Zudem war ihr Status zwischen Religion, Abstammungsgemeinschaft oder Nation auch unter den Juden selbst heftig umstritten. Unbestritten war dagegen die massive Diskriminierung gerade im Zarenreich, in dessen Grenzen ein Großteil der europäischen Judenheit lebte. Seit der Jahrhundertwende wurden daher ein Exodus und die Gründung eines jüdischen Staates propagiert, vorzugsweise in Palästina. Dieser anfangs utopische Plan schien 1917 mit Lord Balfours Versprechen in greifbare Nähe gerückt. Doch schon der Sturz des Zaren stellte dessen Notwendigkeit radikal infrage, denn die Februarrevolution versprach Emanzipation ohne Auswanderung. Sie beschleunigte sich 1917 zur sozialistischen Revolution, und im November 1918 weckten die Revolution in Deutschland und der Kollaps des Habsburgerreichs gar weltrevolutionäre Hoffnungen. Für die um 1900 entstandene Strömung des Arbeiterzionismus, der Sozialismus und Zionismus vereinen wollte, brach der latente »Widerspruch emanzipatorischer Identitäten« nun offen aus.

Der Autor

Ralf Hoffrogge, Jahrgang 1980, hat Geschichte, Politikwissenschaft sowie Psychologie studiert und 2013 mit einer Biografie über den KPD-Politiker Werner Scholem promoviert, die vom Börsenverein des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Derzeit forscht er am Institut für Soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum. Die vollständige Fassung seines hier dokumentierten Beitrags erscheint in der neuen Ausgabe von »Arbeit. Bewegung. Geschichte. Zeitschrift für Historische Studien«, die aus dem »Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung« hervorgegangen ist. Das aktuelle Heft widmet sich dem Schwerpunkt Judentum und Revolution, unter anderem mit Beiträgen von Mario Keßler über »Die Komintern und die Poale Zion 1919 bis 1922«, von Jan Rybak über »Sozialistischen Zionismus in der europäischen Revolution« und von Christian Dietrich über »Die Radikalisierung des österreichischen Arbeiterzionismus 1918 bis 1920«. Orel Beilinson betrachtet in einem weiteren Text aus der Sicht vergleichender Geschichtswissenschaft das Verhältnis von Judentum, Islam und Russischer Revolution.

Informationen zur Ausgabe sowie Bezugsmöglichkeiten finden sich unter arbeiterbewegung-jahrbuch.de

Das Heft wird außerdem am 16. Juni um 18 Uhr bei den »Linken Buchtagen« im Kreuzberger Mehringhof, Gneisenaustr. 2A, von den Autoren Mario Keßler und Christian Dietrich vorgestellt.

Vor allem der neu erstarkende Antisemitismus trug Ende des 19. Jahrhundert zur Hinwendung von Angehörigen der jüdischen Intelligenz zum Sozialismus bei. Gleichzeitig wirkten in West- und Mitteleuropa die älteren und stärkeren Einflüsse von Aufklärung und Assimilationsstreben weiter. Insbesondere in Frankreich und Deutschland entstand ein jüdisches Bürgertum, dessen politische Einstellungen liberal bis konservativ waren. Sozialistinnen und Sozialisten galten als Enfants terribles. Der prominenteste dieser dissidenten Bürgersöhne war Karl Marx, der Möglichkeiten und Grenzen bürgerlicher Emanzipation in seiner Schrift »Zur Judenfrage« reflektierte. Sein Zeitgenosse Moses Hess (1812-1875) kam vom selben Ausgangspunkt zu anderen Schlüssen. Er war zunächst einflussreicher Vertreter des Frühsozialismus, nahm jedoch mit seiner Schrift »Rom und Jerusalem« von 1862 die Forderung nach einem Judenstaat vorweg.

Der sich um diese Idee konzentrierende Zionismus wurde spätestens 1897 mit einem ersten Kongress in Basel von der intellektuellen Utopie zur politischen Bewegung. Obwohl der Zionismus Impulse bürgerlicher Nationalbewegungen aufnahm - Hess orientierte sich am italienischen Risorgimento - blieb er lange mehrheitlich sozialistisch geprägt. Denn der Zionismus traf als »verspätete« Nationalbewegung nicht nur auf einen entwickelten Industriekapitalismus, sondern auch auf bereits ausformulierte Kapitalismuskritik. Vor allem jedoch waren der Adressat, an den sich die zionistischen Aufrufe richteten, weniger das zahlenmäßig kleine jüdische Bürgertum in West- und Mitteleuropa, sondern die jüdischen Massen im Osten. Dort machte das Judentum innerhalb einer Generation seine große Transformation in die kapitalistische Moderne durch, Urbanisierung und Proletarisierung stellten religiöse Weltdeutungen infrage. Gleichzeitig wurde die von den Antisemiten aufgeworfene »Judenfrage« angesichts von Pogromen wie in Kischinew 1903 gerade im Zarenreich zur Existenzfrage.

Auswanderung, aber auch politische Radikalisierung waren die Folge. Die Lage verschärfte sich mit dem Scheitern der Revolution von 1905 bis 1907. Im russisch beherrschten Polen etablierte sich Antisemitismus als »Nationale Reaktion« auch innerhalb der Opposition, die jüdische Bevölkerung fand sich eingeklemmt zwischen imperial-großrussischem und national-polnischem Antisemitismus.

Die Verhältnisse drängten somit zur Tat. Das jüdische Proletariat, zahlenmäßig in der Mehrheit gegenüber einer schmalen Intelligenzija, sah sich doppelt unterdrückt: als Teil der Arbeiterklasse und je nach Auffassung als nationale bzw. religiöse Minderheit. Ähnliches galt für die jüdische Bevölkerung in den Ostgebieten des Habsburgerstaates.

Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass schon vor 1914 in beiden Imperien neben dem »reinen« Zionismus oder Sozialismus »arbeiterzionistische« Gruppen auftraten, die partikulare und universale Emanzipation miteinander versöhnen wollten.

Dies war eine jüdische Kritik am deutschsprachigen Marxismus der II. Internationale, der religiöse Identitäten de-thematisierte und trotz seiner Ablehnung des Antisemitismus von jüdischer Eigenexistenz im Sozialismus nichts wissen wollte. Sowohl Kautsky in seiner Schrift »Rasse und Judentum« von 1914 als auch Otto Bauer in seiner Schrift zu »Nationalitätenfrage und Sozialdemokratie« von 1907 sahen die Juden nicht als eigene Nation. Bauer, selbst assimilierter Jude, entwarf zwar ein wegweisendes Konzept »national-kultureller Autonomie« für die nichtdeutschen Gruppen des Habsburgerstaates. Er hielt jedoch die Assimilation der territorial versprengten jüdischen Bevölkerung für unumkehrbar.

Von marxistischer Seite wurde der Zionismus vor 1914 auch mit dem Argument abgelehnt, er sei als Besiedlung bereits bewohnter Gebiete eine Form des Kolonialismus. In Deutschland konnte sich ein Linkszionismus daher nur in den revisionistischen, weniger kolonialkritischen »Sozialistischen Monatsheften« artikulieren. Sie boten auch jüdischen Intellektuellen Osteuropas wie dem Sozialrevolutionär Chaim Zhitlowsky Raum für Kritik an der Gleichsetzung von Assimilation und Sozialismus.

Obwohl sie von vielen Jüdinnen und Juden geteilt wurde, schlug die aus Fortschrittsdenken und Religionskritik abgeleitete sozialistische Assimilationsforderung vielfach in eine Ignoranz kultureller Differenz um. Sie erschwerte letztlich auch die Auseinandersetzung mit dem erstarkenden Antisemitismus.

Die damalige Kritik zionistischer Siedlungsprojekte lässt sich jedoch gerade nicht auf Antisemitismus reduzieren, sondern wurde von jüdischen Massenorganisationen geteilt. Der »Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Russland, dem Königreich Polen und Litauen« (kurz: Bund) etwa lehnte den Zionismus explizit ab und forderte ähnlich wie Otto Bauer national-kulturelle Autonomie in einem multiethnisch-sozialistischen Staat.

Die Ablehnung des Zionismus durch Bolschewiki, Menschewiki und den Bund wurde zum Gründungsmoment der Bewegung »Poale Zion« (PZ, hebräisch für »Arbeiter Zions«). Bereits ab 1901 hatten sich zionistische Kreise vom Bund abgespalten und 1906 unter dem Einfluss ihres führenden Theoretikers Ber Borochow in Russland zur »Jüdischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« vereinigt. 1907 fand ein erster internationaler Kongress in Den Haag statt, denn schon früh hatten sich arbeiterzionistische Gruppen in der jüdischen Diaspora der USA und Westeuropas, aber auch in Wien und anderen Städten Österreich-Ungarns formiert. Ergebnis war der »Allweltliche Jüdische Sozialistische Arbeiterverband Poale Zion«. Im Verhältnis zu den nichtjüdischen Arbeiterbewegungen waren seine Sektionen marginale Zirkel, in Osteuropa jedoch erfassten sie eine beachtliche absolute Zahl von Aktiven. In Palästina war die von der PZ propagierte Verbindung von Sozialismus und Zionismus prägend bis weit über die Staatsgründung Israels hinaus. Poalezionisten inspirierten die Kibbuzbewegung, ihr gemäßigter Flügel wurde unter David Ben Gurion zu einer Keimzelle der israelischen Sozialdemokratie (Mapai), die das Land bis 1977 regierte. Und auch die Palästinensische Kommunistische Partei, später Kommunistische Partei Israels, entstand aus einer Spaltung der Poale Zion.

In ihrem Ursprungsgebiet wurde die Poale Zion dagegen schon in den 1920er Jahren zerrieben. Unter dem Einfluss der Revolutionen 1917 und 1918 stellten viele lokale Gruppen im Zarenreich und in Österreich-Ungarn die zionistischen Siedlungspläne zurück. Eine Spaltung des Weltverbandes war 1920 die Folge. Auf der einen Seite standen kommunistische Sektionen, die sich in Richtung der Dritten Internationale orientierten, während die andere Seite weiterhin an zionistischer Siedlungsagitation festhielt und sich auf die Sozialdemokratie bezog. Während viele Mitglieder des zionistischen Flügels ihre Auswanderungspläne in den Folgejahren realisierten, wurde die weltrevolutionäre Hoffnung der linken PZ enttäuscht.

Im Zuge der Stalinisierung wurde ihre Eigenständigkeit in der Sowjetunion immer mehr beschnitten, 1928 wurde die Gruppe verboten. Ein im selben Jahr als Kompensation eingerichtetes »Jüdisches Autonomes Gebiet« um die Stadt Birobidschan im fernen Osten der Sowjetunion konnte seine Autonomie nur wenige Jahre genießen - in den 1930er Jahren wurden auch dort jiddische Sprache und Kultur von Repressalien erstickt. Die Allianz mit der Komintern führte somit zur Liquidierung, nicht zur Verwirklichung jüdisch-sozialistischer Autonomie.

Dieses Ende war 1917 kaum absehbar. Von den ihr zuneigenden Sektionen der PZ verlangte die Komintern eine Aufgabe ihrer Siedlungsziele in Palästina, sie stand damit jedoch noch in der Tradition der schon vor 1914 geäußerten Kritik am Konflikt zwischen jüdischen Siedlungsplänen und arabischer Bevölkerung. Trotz der rigiden Haltung der KI kam die Spaltung in der Anfangsphase nicht nur von oben. Viele Sektionen der Poale Zion gaben ihre Siedlungsagitation im Rahmen der revolutionären Euphorie aus eigenen Stücken auf.

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