Emanzipation in den Räumen und Rissen
Wenn der Reformismus gescheitert ist und die Revolution keine Option mehr: über Erik Olin Wrights emanzipatorische Transformationsforschung
Es ist erstaunlich, dass der Name Erik Olin Wright in der politischen Debatte nicht präsenter ist. Denn der US-Amerikaner, der an der Universität von Wisconsin Soziologie unterrichtet, beschäftigt sich seit bald drei Jahrzehnten mit einem Problem, das die Frage linker Politik darstellt: Welche Transformationen sind aus emanzipatorischer Perspektive wünschenswert und möglich und mit welchen Strategien lassen sie sich durchsetzen? Wrights Buch »Reale Utopien«, das unter dem Titel »Envisionning Real Utopias« zuerst 2010 im Londoner Verso-Verlag erstveröffentlicht wurde, fasst die Ergebnisse dieser Forschung zusammen.
Dabei kann man durchaus behaupten, dass Wright so etwas wie einen eigenen kleinen Wissenschaftszweig entwickelt hat: die emanzipatorische Transformationsforschung. Dabei geht es ihm nicht um die Entwicklung eines Modells. Während die »Gemeinwohl-Ökonomie« des österreichischen ATTAC-Aktivisten Christian Felber oder die »Partizipatorische Wirtschaft« (»Parecon«) des US-Anarchisten Michael Albert der Gesellschaft gleichsam wie Blaupausen übergelegt werden, konzentriert sich Wright auf bereits Bestehendes. Er untersucht kollektive Praktiken, die aus der Gesellschaft heraus entstanden sind, und fragt nach den Möglichkeiten ihrer Ausbreitung.
Mit dieser Herangehensweise versucht Wright jenes Dilemma aufzulösen, das die Linke seit Mitte des 19. Jahrhunderts verfolgt: den Widerspruch zwischen Utopie und materialistischer Methode. Der Frühsozialismus hatte sich bekanntermaßen darauf kapriziert, alternative Gesellschaftskonzepte zu entwerfen, sich aber wenig Gedanken um Machtverhältnisse und die Durchsetzbarkeit der eigenen Projekte gemacht. Marx grenzte sich von diesem Idealismus schroff ab und propagierte stattdessen die – auch praktische – Kritik der Verhältnisse. Seiner Ansicht nach waren nicht gute Ideen, sondern soziale Kämpfe und technische Entwicklungen die entscheidenden Motoren des gesellschaftlichen Fortschritts.
Experimente und Utopien
In den 1950er Jahren warf der marxistische Philosoph Ernst Bloch allerdings die Frage auf, ob die Ablehnung der Utopie nicht zu schroff ausgefallen sei. Es sei nämlich sehr wohl notwendig, sich gesellschaftliche Gegenentwürfe konkreter vorzustellen. Doch dies müsse ausgehend von der realen Praxis geschehen. In diesem Zusammenhang entwickelte Bloch den Begriff der »konkreten Utopien« – also gesellschaftlicher Experimente und Organisationsformen, die über das Bestehende hinausweisen und Befreiung vorwegnehmen sollten.
Genau hier setzt auch Wright an. Er sucht nach »realen Utopien« und nimmt hierfür ein breites Spektrum emanzipatorischer Ansätze in den Blick: von den baskischen Mondragón-Genossenschaften bis hin zur Peer-to-Peer-Produktion der Freie-Software-Bewegung und der institutionellen Reformpolitik in Kanada oder Skandinavien. Gerade diese Konkretisierung lässt das Buch allerdings streckenweise auch recht banal werden. Städtisch betriebene Kindergärten oder von BürgerInnen gegründete Energiegenossenschaften werden politischen LeserInnen wohl kaum als Projekte zur Überwindung des Kapitalismus gelten können.
Diese Kritik lässt sich dem Buch an vielen Stellen machen. Wright schildert viele Politikansätze zu positiv oder misst zu große transformatorische Bedeutung bei. Und doch ist »Reale Utopien« ein grundlegendes Buch der politischen Gegenwart, das viel zu einer strategischen Neubestimmung der Linken beitragen könnte.
Drei Ansätze an ihre Grenzen gestoßen
Im Schlusskapitel legt Wright seine Kernthese dar – dass nämlich die drei großen Transformationsansätze des 20. Jahrhunderts gescheitert oder an Grenzen gestoßen sind. Der revolutionäre Bruch sei mit so großen Verwerfungen (Wirtschaftskrisen, Bürgerkriegen und Hungersnöten) einhergegangen, dass er nur noch autoritär aufrecht erhalten werden konnte. Der sozialdemokratische Reformismus hingegen habe eine Symbiose mit Staat und Kapital propagiert und sei dabei von den Machteliten fast vollständig kooptiert worden. Und die Nischenpraxis der Genossenschaften und Kommunen schließlich habe die kapitalistische Herrschaft nie ernsthaft in Frage stellen können, sondern sie nur ausgestaltet.
Wright zieht daraus die Schlussfolgerung, dass es darum geht, erstens die drei Strategien anders miteinander zu kombinieren, und dabei zweitens einen Perspektivwechsel zu vollziehen. Nicht mehr die Übernahme des Staatsapparates, sondern die Ermächtigung der Gesellschaft gegenüber Kapital und Staat müsse das strategische Ziel sein: »Anstatt den Kapitalismus durch Reformen 'von oben' zu zähmen oder mittels eines revolutionären Bruchs zu zerschlagen, sollte (…) der Kapitalismus dadurch erodiert werden, dass in den Räumen und Rissen innerhalb kapitalistischer Wirtschaften emanzipatorische Alternativen aufgebaut werden und zugleich um die (…) Ausweitung dieser Räume gekämpft wird.«
Wright ist dabei allerdings auch kein Anarchist. Er begreift den Staat als institutionelle Verdichtung von Machtverhältnissen und ist daher der Ansicht, dass dieser für emanzipatorische Politik unverzichtbar bleibt. Ohne staatliche Ressourcen und Schutz werde sich die Selbstorganisierung der Vielen nicht entfalten können. In diesem Zusammenhang misst Wright der Ausweitung und Vertiefung der Demokratie zentrale Bedeutung bei.
Keine Antwort auf das Machtproblem
Schon allein wegen dieser drei Thesen sollte der Name Wright eigentlich in aller Munde sein. Dass er dies bislang nicht ist, liegt aber eben auch daran, dass Wright seine Thesen unnötig zuschaufelt. Das hat zum Einen mit der Methode zu tun: Da er Erstsemesterstudierende ebenso ansprechen will wie marxistisch geschulte KollegInnen schwankt »Reale Utopien« zwischen Einführungstext und penibler Begriffskategorisierung. Das wird auch durch die Aufteilung in Haupttext und vertiefende Fußnoten nicht besser.
Das zweite Problem ist inhaltlicher Natur: Wrights These lautet, dass die Revolution nach den Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts keine strategische Option mehr darstellt. Er plädiert daher für einen Reformismus, der die Selbstermächtigung von unten stärkt. Das hört sich sympathisch an, liefert aber keine Antwort auf das – nach wie vor zentrale – Machtproblem. Der Reformismus existiert heute ja auch deshalb faktisch nicht mehr, weil es keine revolutionären Bewegungen mehr gibt, die die Machteliten wie im 20. Jahrhundert zu Zugeständnissen zwingen.
Man könnte behaupten, Wright habe seine eigene These nicht zu Ende gedacht: Der Reformismus war nur in der komplementären Verbindung mit revolutionären Optionen erfolgreich, die ein Drohpotenzial aufbauten. Erst das Zusammenspiel zwischen der Alltagspraxis im Kleinen, dem politischen Reformismus und den revolutionären Bewegungen ermöglichte im 19. und 20. Jahrhundert den sozialen Fortschritt. Doch das Verdienst von »Reale Utopien« besteht darin, solche grundlegenden Fragen überhaupt wieder aufgeworfen zu haben.
Erik Olin Wright: Reale Utopien - Wege aus dem Kapitalismus, Suhrkamp 2017, 530 Seiten, 24 Euro. Raul Zelik, Jahrgang 1968, ist Schriftsteller, Journalist, Übersetzer und Politikwissenschaftler. Seit 2016 ist er auch Mitglied des Vorstandes der Linkspartei.
Wright hält am Donnerstagabend, 18. Mai, ab 18 Uhr in der Berliner Humboldt Universität, Unter den Linden 6 (Hauptgebäude Raum 2002/UL 6) eine Vorlesung zu seinen »Realen Utopien« (in Englisch). Die Veranstaltung wird gemeinsam vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Uni und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert.
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