Brasilien: Neoliberaler Temer unter Korruptionsverdacht

Ermittlungen gegen Staatsoberhaupt eingeleitet / Opposition fordert Präsidenten zum Rücktritt auf

  • Georg Ismar, Brasilia
  • Lesedauer: 4 Min.

Peinlicher geht es eigentlich nicht. Ein Präsident trifft sich mit dem Besitzer des weltgrößten Fleischkonzerns JBS, sie reden über den Strand, das Wetter. Und über unangenehme Zeitgenossen, die man zum Schweigen bringen will. Es rauscht, Brasiliens Präsident Michel Temer ist schwer zu verstehen - das Aufnahmegerät befindet sich irgendwo in der Hose von Joesley Batista. Was Temer nicht ahnt. Und nun kann ein ganzes Land diesen 38-minütigen Dialog hören.

Wo US-Präsident Donald Trump letztens andeutete, dass er Gespräche mitschneiden lässt, ist in diesem Polit-Krimi - in der nach den USA zweitgrößten westlichen Demokratie - der Präsident derjenige, der nicht weiß, dass seine Worte mitgeschnitten werden. Er sagt: »Es darf nicht nach einer Behinderung der Justiz aussehen.« Der Mitschnitt findet den Weg in alle führenden Medien, wird rauf und runter zitiert - das dürfte den Druck noch einmal erhöhen. Nach langen Krisensitzungen hatte Temer zuvor trotzig gesagt: »Ich werde nicht zurücktreten.«

Er spricht vom »besten und schlechtesten Moment« seiner Amtszeit, die da nun plötzlich zusammenträfen. Der Beste, weil es Anzeichen einer wirtschaftlichen Besserung gibt, die Talsohle der Rezession scheint für die neuntgrößte Volkswirtschaft durchschritten. Der Schlechteste wegen der »Bombe«, die da in Brasilia eingeschlagen ist. Mehrere Minister sind sofort nach Bekanntwerden zurückgetreten. Kündigen die Sozialdemokraten (PSDB) als wichtigster Koalitionspartner Temer die Gefolgschaft, wird es recht einsam für ihn im Palacio Planalto. Und es droht wieder Lähmung statt Reformen. Rückschritt, Intrigen.

Es geht in dem Plausch in Temers Residenz im März um den früheren Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha: auch für Temer ist der einstige Verbündete eine Gefahr. Er soll mehrere Millionen an Schmiergeldern kassiert haben, sitzt im Gefängnis, fühlt sich von Temer im Stich gelassen und weiß viel über das Netzwerk. Er war es, der für Temer die Arbeit machte und das fragwürdige Amtsenthebungsverfahren gegen die linke Präsidentin Dilma Rousseff durch den Kongress peitschte. So konnte ihr Vizepräsident Temer aus Sicht Rousseffs putschartig die Macht übernehmen. Sie dürfte diese Momente nun bittersüß genießen.

Auch gegen JBS wird ermittelt im weitverzweigten Korruptionsskandal, der das Land seit 2014 in Atem hält und die ganze Politik in Verruf gebracht hat. Unternehmen waren praktisch gezwungen, Schmiergelder an Politiker zu zahlen, um bestimmte Aufträge oder um Türen geöffnet zu bekommen. JBS exportiert heute Fleisch in rund 150 Staaten.

Temer erfährt, dass Batista einen Spion bei der Justiz hat, um über alle Schritte auf dem Laufenden zu sein. Aber da ist die lose Kanone Cunha. Es geht um die Fortsetzung monatlicher Zahlungen. »Man muss das aufrechterhalten, ok?«, sagt Temer. Das ist der Schlüsselsatz. Später betont er: »Ich habe das Schweigen von niemandem erkauft«. Temer kassiert nicht, aber er fordert aktiv, Cunha ruhigzuhalten.

Was ihn vor allem in die Enge treibt: Es tauchen Filmaufnahmen auf, wie einer seiner engsten Vertrauten, Rocha Loures, in einem Café in São Paulo von einem JBS-Direktor eine Tasche mit 500 000 Reais (146 000 Euro) bekommt, angeblich soll das die monatliche Summe für Cunhas Schweigen gewesen sein. Ist Temer in eine Falle Batistas getappt?

Der hat Fotos und Mitschnitte dem Obersten Gerichtshof ausgehändigt, der nun gegen Temer ermittelt, der Abgeordnete und Geldüberbringer Rocha Loures wurde des Amtes enthoben, ihm droht eine Haftstrafe.

Die Geschichte geht weiter: Batista, der nach New York ausgereist ist, lässt einen Brief verbreiten - da erweckt der Milliardär, zu dessem Imperium auch der Flip-Flop-Hersteller Havaianas gehört, den Eindruck, eine Robin Hood zu sein, der aufräumen will. »Wir stellen uns zur Verfügung, um die Korruption aufzudecken.« Und: JBS zahlt nach Verhandlungen mit dem Obersten Gericht für all die eigenen Verfehlungen rund 225 Millionen Reais (65 Mio Euro). Mit diesem »Deal« kauft man sich frei - und könnte Temer zu Fall bringen.

Der konservative Jurist hatte sich noch vor einem Jahr zum Retter ausgerufen, wollte Schluss machen mit linker Umverteilungspolitik, die Leute länger arbeiten lassen, den Staatsapparat verschlanken, mit Privatisierungen das Defizit senken. Nun muss er zum Retter in eigener Sache werden: Ohne den Schutz des Amtes kann ihm ein Prozess drohen. Im schlimmsten Fall endet dieser Krimi für ihn im Gefängnis. dpa/nd

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