Worin Nancy Fraser weiterhin irrt
Anerkennungspolitik versus Umverteilungspolitik? Anmerkungen zur neueren Debatte über Feminismus und Antikapitalismus
Bereits seit mehr als 20 Jahren vertritt Nancy Fraser ihre These, die von ihr so genannte »Anerkennungspolitik« der neuen sozialen Bewegungen habe die Umverteilungspolitik der alten sozialen Bewegung (der ArbeiterInnenbewegung) verdrängt:
»Die ‚Kämpfe um Anerkennung’ sind rasant dabei, zum Paradigma der politischen Konflikte des späten 20. Jahrhunderts zu werden. Forderungen nach ‚Anerkennung der Differenz’ heizen Kämpfe von Gruppen an, die unter dem Banner der Nationalität, der Ethnizität, der ‚Rasse’, des Geschlechts und der Sexualität mobilisiert werden. In diesen ‚nach-sozialistischen’ Konflikten ersetzen Gruppeninteressen Klasseninteressen als Hauptmedium der politischen Mobilisierung. Kulturelle Herrschaft ersetzt Ausbeutung als grundlegende Ungerechtigkeit. Und kulturelle Anerkennung ersetzt sozioökonomische Umverteilung als Abhilfe gegen Ungerechtigkeit und Ziel des politischen Kampfes.«
Auch wenn sich Fraser selbst schon damals dagegen wandte, »schlicht und einfach alle Identitätspolitik zurückzuweisen«, und statt dessen für »die Entwicklung einer kritischen Theorie der Anerkennung, die nur solche Versionen der kulturellen Politik der Differenz ausfindig macht und verteidigt, die kohärent mit einer sozialen Politik der Gleichheit kombiniert werden können«, plädierte, enthielt und enthält ihr Schema – an dem sie mit Modifikationen bis heute festhält – einen zweifach problematischen Subtext:
(1.) Emanzipatorische Kämpfe neuer sozialer Bewegungen gegen Rassismus, Patriarchat und Homophobie waren damit im gleichen ‚Lager’ einsortiert, wie die zumeist beidseitig reaktionären Nationalitätenkonflikte, die Anfang der 1990er in den Ländern des zusammenbrechenden ‚Real’sozialismus zur Austragung kamen.
(2.) Trotz der Absicht, Anerkennungs- und Umverteilungskämpfe verbinden zu wollen, blieb es bei der Diagnose, am Ende des 20. Jahrhunderts würden – aufgrund einer angeblichen Ersetzung durch Anerkennungskämpfe der neuen sozialen Bewegungen – zu wenig Umverteilungskämpfe der Lohnabhängigen geführt werden – ganz so,
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als ob es für die jeweiligen politischen Subjekte zur beliebigen Wahl stehen würde, ob sie diese oder jene Kämpfe führen, und
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als wären die Kämpfe der ersteren Art die Ursache für das Abflauen der Kämpfe der zweiten Art –
und in diesem Sinne wurde und wird Nancy Fraser immer wieder gerne sowohl von sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen als auch sich als revolutionär-marxistisch verstehenden Strömungen der Linken in Anspruch genommen, um mit »Identitäts-« und »Anerkennungspolitik«, dem vermeintlich »bürgerlichen« oder »(neo)liberalen« Feminismus und überhaupt allem, was seit ’68 die gute alte Klassenwelt durcheinander brachte, abzurechnen, obwohl sich die Linken mit revolutionär-marxistischem Anspruch an der seichten, sozialdemokratischen Rhetorik von »Umverteilung« und »sozialer Gerechtigkeit« hätten stoßen müssen...
Zumindest eines hat Nancy Fraser nun in einem Interview mit der amerikanischen internet-Zeitung Left Voice, das kurz vor dem 8. März geführt wurde und das nun von deren deutscher Schwesterseite klassegegenklasse.org in einer übersetzten Version veröffentlicht wurde, korrigiert – nämlich den unscharfen Begriff der »Umverteilung«, mit dem sie 1995 Klassenpolitik konzeptionierte:
»Für mich war der Begriff ‚Umverteilung’ schon ein Zugeständnis und in gewissem Sinne eine Alternative zum Sozialismus oder vielleicht ein ‚Sozialismus light’. Ein Sozialismus, den man sich nicht traut, beim Namen zu nennen. In anderen Worten: als die Arbeiter*innenbewegungen und andere radikale Bewegungen, die sozialistischen Bewegungen gegen die grundlegenden Regeln der kapitalistischen Gesellschaft kämpften, wie die Eigentumsverhältnisse, die Aneignung des Mehrwertes, etc. sprachen sie nicht von ‚Umverteilung’, sondern von einer strukturellen Umwandlung.«
Abgesehen von dieser – begrüßenswerten – Präzisierung und (Wieder-)Verschärfung ihrer Konzeption von Klassenpolitik, hält sie aber an ihrem grundlegenden Schema fest:
»Ich denke, dass als Antwort auf das dominante Umverteilungsparadigma ein zweites Paradigma entstand, das ich und viele andere als ‚Anerkennung’ bezeichnet haben. Dabei geht es nicht mehr nur darum, dass man gleich behandelt wird, sondern dass die eigene Besonderheit anerkannt, angenommen und respektiert wird. Wir müssen nicht alle gleich sein oder das Leben eines weißen heterosexuellen Mannes leben, um als vollständiges und gültiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden.«
Dieses Konzept der »Anerkennungspolitik« ist freilich eine mehrfache Karikatur der neuen sozialen Bewegungen im allgemeinen und der zweiten Welle der Frauenbewegung insbesondere:
Zunächst und grundlegend: Dem Feminismus ging es nie darum, neben das Leben von Männern – seien sie weiß oder schwarz; heterosexuell oder schwul – pluralistisch ein anderes Leben von Frauen zu stellen. Daß die Individuen in Frauen und Männer eingeteilt werden und je nachdem ein unterschiedliches Leben zu leben haben, ist vielmehr die Realität patriarchaler Gesellschaften. Feminismus hieß immer auch das Leben von Männern, die vergewaltigen, sich um Haus- und Erziehungsarbeit drücken, Frauen beim Reden unterbrechen etc., versuchen zu ändern. Keine hat es vielleicht besser ausgedrückt als Nancy Fraser selbst – allerdings noch bevor das »post-sozialistische« Zeitalter ausgebrochen war: »Solange wie die Arbeiter-Rolle und die Kinderaufzieher-Rolle als miteinander grundsätzlich unvereinbar konstituiert sind, wird es nicht möglich sein, irgendeine dieser Rollen so zu universalisieren, dass sie beide Geschlechter einschließt.«
Sodann theoriegeschichtlich: Die sog. »Politik der Differenz« und damit die Forderung nach ‚Anerkennung’ der Differenzen wurde – jedenfalls im Feminismus – überhaupt erst in den 1980er Jahren durch Transformation (eines Teils) des Radikalfeminismus der 1970er Jahre in den Differenzfeminismus der 1980er zu einer breiteren Strömung – und diesem stand in den 1980er Jahren (weiterhin) der Gleichheitsfeminismus (so eine Art zusammenfassende Bezeichnung für den sozialistischen und liberalen Feminismus der 1970er Jahre) gegenüber.
Und der de-konstruktivistische Feminismus entwickelt sich seinerseits zunächst gerade in Kritik an dem identitären Differenzfeminismus der 1980er Jahre – auch wenn dies jedenfalls in Deutschland im Zuge der Verwandlung de-konstruktivistischer Identitätskritik in queer‚feministische’ Identitätspolitik inzwischen weitgehend vergessen wurde.
Bezeichnend scheint mir nun zu sein, daß Nancy Fraser und mehr noch ihre Fans die Abhilfe gegenüber den in der Tat bestehenden Mängeln der Anerkennungs- bzw. Differenzpolitik in mehr »Umverteilung« zwischen den Klassen oder – nunmehr – mehr Antikapitalismus sehen und die inner-feministische Kritik am Differenzansatz mehr oder minder unter den Tisch fällt. Nun mag gesagt werden, Fraser verstehe sich ja selbst als Feministin und insofern sei auch ihre Kritik eine inner-feministische Kritik; aber trotzdem ist es ja ein Unterschied, ob der Differenzfeminismus (bzw. die sog. »Anerkennungspolitik«) kritisiert wird,
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weil er (bzw. sie) auch und gerade für den Kampf für eine Umwälzung des patriarchalen Geschlechterverhältnisses untauglich ist, oder
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weil Differenzfeminismus und Anerkennungspolitik ‚nicht antikapitalistisch (genug)’ seien.
Damit sind wir bei der nächsten Ungenauigkeit Frasers Schema: Der Differenzfeminismus des Bielefelder Ansatzes von Maria Mies, Claudia von Werlhof und Veronika Bennholdt-Thomsen war ja durchaus antikapitalistisch (wenn auch ohne Lohnarbeiterzentrismus und mit einer umstrittenen Reformulierung der marxschen Werttheorie) und auch der heutige sich als linksradikal verstehende Queer‚feminismus’, der in Tat so eine Art linksliberaler »Anerkennungspolitik« für Trans*- und Inter*-Menschen betreibt, versteht sich ebenfalls als »antikapitalistisch« (wenn auch mit geringer begrifflich-analytischer Tiefe – und trotzdem läßt sich deren (des Bielefelder Ansatzes und des Queer‚feminismus’) Differenz- bzw. Anerkennungspolitik feministisch kritisieren – oder anders gesagt: der Antikapitalismus macht die feministische Kritik nicht überflüßig (mehr dazu später).
Aber kommen wir erst einmal zurück zu Frasers Grundthese, dass Kämpfe, die unter dem Banner des Geschlechts geführt werden, solche um die Anerkennung von Differenz gewesen seien. Die großen Themen des Feminismus der 1970er und 1980er Jahre waren die geschlechtshierarchische Verteilung der Haus- und Erwerbsarbeit, sexuelle/sexualisierte Gewalt und reproduktive Freiheiten (statt – je nach Land – pro- oder antinatalistischer patriarchaler Politiken).
Es wäre jedenfalls etwas schief, den Kampf gegen Vergewaltigungen sowie Abtreibungsverbote und Zwangsterilisationen auf das anerkennungspolitische Motto »Ich möchte so sein (dürfen) und bleiben, wie ich bin« herunterzubrechen und haarsträubend, die männliche Kontrolle über die Körper von Frauen zu etwas bloß Kulturellem zu erklären; und die Thematisierung der geschlechtshierarchischen Verteilung der Haus- und Erwerbsarbeit mündete zwar auch in die Forderung nach Anerkennung des ‚moralischen’ Wertes von Haus- und Erziehungsarbeit; aber sie mündete auch in die Forderungen nach »Lohn für Hausarbeit« (die unter Feministinnen wie auch zwischen Feministinnen und nicht-feministischen MarxistInnen kontrovers diskutiert wurde), nach gleicher Beteiligung von Männern an Haus- und Erziehungsarbeit, nach Quotierung (und zwar nicht nur von Aufsichträten) und Beendigung der Frauenlohndiskriminierung.
Ich denke nicht, daß Nancy Fraser diese feministischen Politiken der 1970er und 1980er Jahre verwirft – zumal sie ja eh sagt, daß sie Anerkennungs- und Umverteilungspolitik kombinieren will; aber es wäre auch ein Missverständnis zu sagen, Fraser würde mit dem Begriff der »Anerkennungspolitik« nur das meinen, was sie als neoliberalen Feminismus und neoliberale LGBTI-Politiken der 1990er und 2000er Jahre kritisiert. Denn ihre Grundthese hatte sie ja schon 1995 entwickelt und auch in ihrem jetzigen Left Voice-Interview läßt sie das Paradigma der Anerkennung schon mit Betty Friedan und der Neuen Linken der 1960er Jahre beginnen:
»Es gibt natürlich zahlreiche Probleme mit diesem Konzept [der Umverteilung], doch eines von ihnen war dabei, dass in der Nachkriegsperiode das Umverteilungsmodell als zu restriktiv erschien. Betty Friedan schrieb über die Hausfrauen, die in den Vororten festgehalten wurden. So entstand eine neue Linke, [...]. Sie hatte andere Ziele als die gerechte Verteilung von Einkommen, Löhnen und Arbeitsplätze, etc. Zum Beispiel kam der Kampf gegen die Rassentrennung auf. Und so näherte sie sich einigen tiefgründigen und strukturellen Problemen an. Sie machten auf das Problem […] Armut der Afroamerikaner*innen aufmerksam [...]. Ich denke, dass als Antwort auf das dominante Umverteilungsparadigma ein zweites Paradigma entstand, das ich und viele andere als ‚Anerkennung’ bezeichnet haben.«
Wenn die Entstehung des Paradigmas der »Anerkennungspolitik« bereits in den 1960er Jahren verortet wird und praktisch die gesamte linke Politik außerhalb des sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen und parteikommunistischen (maoistische und trotzkistische Kleingruppen eingeschlossen) Spektrums meint, dann wird Frasers These in faktischer und politischer Hinsicht hochfragwürdig.
Dass sich der Feminismus der 1970er und 1980er Jahre nicht auf den Begriff der Anerkennungspolitik herunterbrechen läßt, habe ich bereits ausgeführt.
Hinsichtlich des Antirassismus deutet dies Fraser selbst an, indem sie die »Armut der Afroamerikaner*innen« anspricht. Auch wenn »Armut« kein besonders tiefschürfender Begriff ist, sollte immerhin klarsein, daß die antirassistischen Politiken nach ’68er nicht adäquat damit beschrieben wären, zu sagen, daß es darum gegangen sei, in der »eigene[n] Besonderheit« – der schwarzen Armut – »anerkannt, angenommen und respektiert« zu werden. Vielmehr ging und geht es um rassistische Arbeitsteilung, Lohndiskriminierung und Gewalt, rechtliche Ungleichheit und faktische Diskriminierung.
Ebenfalls nicht in das Schema von alter »sozialökonomischer Umverteilungs-« und neuer »kultureller Anerkennungs«-Politik paßt der Großteil der Umweltbewegung. In dieser fordert zwar eine eher marginale Strömung von »TierrechtlerInnen« die Anerkennung von »Tierrechten«, aber der Hauptteil der Kritik an nuklearen, chemischen und anderen Verschmutzungen wurde nicht im Interesse des »Naturschutzes«, sondern höchst materieller menschlicher Lebensbedingungen formuliert – auch wenn zutreffend ist, worauf Fraser hinweist: nämlich, daß sich in der Ökologiebewegung ein »unternehmerische[r] und neoliberale[r] Flügel« herausgebildet hat, der »einen grünen Kapitalismus vorantreibt«. – Aber was hat das bitte sehr mit »Anerkennungspolitik« zu tun?!
Am ehesten passt der Ausdruck »Anerkennungspolitik« vielleicht noch auf die Schwulenbewegung, in der es auch in den 1970er und 1980er Jahren nur einen kleinen pro-feministischen bzw. patriarchatskritischen Flügel, aber andererseits auch explizit maskulinistische Tendenzen gab (und weiterhin gibt) und der es in der Tat um die – wenn wir es so ausdrücken wollen – »Anerkennung« der eigenen sexuellen »Besonderheit« ging. Demgegenüber stellte der frühe Radikalfeminismus schon knapp 20 Jahre vor Judith Butlers Gender Trouble mit der Infragestellung der Geschlechter auch die Aufteilung in Homo-, Hetero- und Bisexualität in Frage:
»[...] genau wie am Ende einer sozialistischen Revolution nicht nur die Abschaffung der ökonomischen Klassenprivilegien, sondern die Aufhebung der Klassenunterschiede selbst steht, so muß die feministische Revolution, im Gegensatz zur ersten feministischen Bewegung [am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts], nicht einfach auf die Beseitigung der männlichen Privilegien, sondern der Geschlechtsunterschiede selbst zielen: genitale Unterschiede zwischen den Geschlechtern hätten dann keine gesellschaftliche Bedeutung mehr. (Das bedeutet die Rückkehr zu einer ungehinderten Pansexualität […], und würde dann wahrscheinlich Hetero-Homo-Bisexualität ersetzen.)«
Ohne vollständig mit dem Ansatz von Shulamith Firestone einverstanden zu sein, füge ich dieses Zitat aus der deutschen Übersetzung ihres Buches The Dialectic of Sex and the Case of Feminist Revolution (das in den USA 1970 erschien) hier nur an, um zu zeigen,
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dass der frühe Radikalfeminismus noch kein Differenzfeminismus war, dem es um die ‚Anerkennung von Weiblichkeit’ gegangen wäre, sondern daß es ihm vielmehr um die Überwindung der Geschlechter ging, und
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dass er folglich auch nicht mit einer homosexuellen Identitätspolitik (‚Anerkennung schwuler und lesbischer Besonderheiten’ – in der Terminologie Frasers) vereinbar war, sondern auf die – mit der Überwindung der Geschlechter einhergehende – Überwindung der Homo-Hetero-Bi-Unterscheidung zielte.
Hier ist nun vielleicht die geeignete Stelle, um – wie oben angekündigt – auf die feministische Kritik an Differenzpolitik zurückzukommen. Sie lautet: Das, was Weiblichkeit und Männlichkeit in dieser Gesellschaft ausmacht, ist nicht das innere ‚Wesen’ des einen bzw. anderen Geschlechts bzw. der Menschen, die dem einen oder anderen Geschlecht zugeordnet werden, sondern selbst Produkt des patriarchalen Geschlechterverhältnisses. Dies war schon der Kern der älteren feministischen Unterscheidung zwischen sex und gender, biologischem und sozialem Geschlecht, die dann von Judith Butler dahin radikalisiert worden ist, daß auch sex ein Produkt von gender sei.
Daher kann es feministischer Politik, die das herrschende Geschlechterverhältnis angreift, nicht um die »Anerkennung« von Weiblichkeit (so wie sie ist) gehen, sondern stellt feministische Politik einen Angriff auf das, was in dieser und anderen Gesellschaften als weiblich bzw. männlich gilt, dar. Um diesen Angriff zu führen, hat es sich zwar als nützlich erwiesen, wenn sich Frauen gemeinsam (auch ohne Männer) über ihre gesellschaftliche Lage austauschen und Strategien zu deren Veränderung zu entwickeln, in diesem Kontext auch gemeinsame kulturelle Räume schaffen und eine gemeinsame politische Identität entwickeln – aber nur, um nicht mehr das zu sein, das Frauen im Patriarchat sind.
Angesichts alldessen möchte ich folgende These formulieren: Auch wenn dies nicht Frasers Intention ist, sondern sie Anerkennungs- und Umverteilungs- (bzw. neuerdings antikapitalistische) Politik miteinander verbinden möchte, so ist doch ihre Karikatur der Politik der Neuen Linken nur dazu geeignet, eine Generalabrechnung mit »68« und allem, was daraus folgte, zu formulieren, um anschließend wieder in den verrosteten Heimathafen der alten Linken mit ihrem Haupt-/Nebenwiderspruchs-Denken und der Unterordnung aller anderen Themen, Anliegen und Bewegungen unter die Hegemonie der »Arbeiterbewegung« (oder auch – sprachlich leicht modernisiert –: »ArbeiterInnenbewegung« [oder gar: »Arbeiter*innenbewegung«]) einzulaufen.
Denn, wenn tatsächlich alle Kämpfe, die unter dem Bannern von race, sex, gender and sexuality geführt wurden, bloße Anerkennungskämpfe gewesen wäre und alles, was nicht in Frasers Schema von sozioökonomischer Klassen- und kultureller Gruppenpolitik passt, unter den Tisch fällt, dann gäbe es in der Tat wenig an Feminismus und Antirassismus, wie sie ab Mitte/Ende der 1960er Jahre entwickelt wurden, zu verteidigen, und wir könnten wieder anfangen, wie die Kommunistische Internationale von »Frauenfrage« und »Negerfrage« (IV. Weltkongreß) zu sprechen (und manche sich für super-links haltende Gruppen hatten und haben die Rede von der »Frauenfrage« eh nie aufgegeben und »68« und die Folgen einfach ignoriert bzw. verschlafen).
Eine solche Generalabrechnung mit »68« und den Folgen würde aber auch den Weg verbauen, an die Ansätze eines materialistischen und revolutionären Feminismus, die in den 1970er und 1980er Jahren sowohl von radikalen als auch sozialistischen Feministinnen entwickelt wurden, wieder anzuknüpfen. Diese Ansätze waren zwar zumeist sowohl feministisch als auch antikapitalistisch; aber:
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sie waren gerade insofern feministisch,
++ als sie die Entstehung des Patriarchats nicht mehr mit Friedrich Engels aus der Entstehung des Privateigentums und der Vererbung ableiteten, sondern aus der – mal mehr gesellschaftlich, mal mehr biologisch-sexuell verstandenen – geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung und
++ die Perspektive der Überwindung dieser Arbeitsteilung entwickelten und
++ insofern sie damit feministische Kämpfe nicht mehr dem Klassenkampf oder dem Antikapitalismus unter-, sondern diesem in etwa gleichordneten (die sozialistischen Feministinnen) oder sogar – in feministischer Umkehrung des marxistischen Haupt-/Nebenwiderspruchs-Denkens – überordneten (die radikalen Feministinnen);
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und sie waren in Bezug auf das Geschlechterverhältnis
++ nicht materialistisch und revolutionär, indem sie antikapitalistisch waren (auch wenn sie es auch waren),
++ sondern sie waren in Bezug auf das Geschlechterverhältnis materialistisch und revolutionär, indem sie die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung und sexuelle/sexualisierte Gewalt als – umzuwälzende – eigene materielle Basis des Patriarchats und das Beharrungsinteresse von – auch linken und schwulen – Männern in Bezug auf das patriarchale Geschlechterverhältnis und deshalb die Notwendigkeit eigenständiger, feministischer FrauenLesben-Organisierung erkannten.
Die von den revolutionären Feministinnen der 1970er und 1980er Jahre vorgenommene Verknüpfung zwischen Feminismus und Antikapitalismus unterscheidet sich von der heutigen und damaligen Aufforderung linker Männer und geschlechter-gemischter linker Gruppen an Feministinnen, sie sollten doch gefälligst als Feministinnen antikapitalistisch sein oder sich um die »soziale Frage« kümmern, dadurch, daß die damalige Verknüpfung in den Akteuerinnen, die beides – feministisch und antikapitalistisch – waren, zustande kam. Logischerweise wurde auch versucht, nicht-sozialistische Feministinnen von sozialistischen Positionen zu überzeugen, aber die Legitimität feministischer Kämpfe wurde nicht davon abhängig gemacht (und konnte nicht mehr davon abhängig gemacht werden), daß sie zugleich antikapitalistisch sind. Dies war dadurch ausgeschlossen, dass die sozialistischen Feministinnen mit der marxistischen ‚Ableitung’ o.ä. des Patriarchats aus dem Kapitalismus, der Klassengesellschaft bzw. dem Privateigentum brachen. Dadurch, dass das Patriarchat eigene historische Ursachen hatte und eigene heutige Funktionsmechanismen hat, ist auch legitim (wenn auch begrenzt), allein das Patriarchat zu bekämpfen. Trotz mancher verwaschener Formulierungen im Einzelnen war die Hauptleistung des sozialistischen Feminismus,
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den Feminismus nicht als Teil eines Ganzen, das seinerseits kurzschlüssig mit dem Antikapitalismus gleichgesetzt wird, zu konzeptionieren, sondern das Geschlechterverhältnis als Teil eines Ganzen, das sowohl patriarchal als auch kapitalistisch ist, und
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zu erkennen, daß es deshalb einer ‚doppelten Militanz’ bedarf; daß an ‚zwei Fronten’ gegen zwei Gegner zu kämpfen ist: Beharrungsinteressen von Männern in Sachen Patriarchat und das Beharrungsinteressen von KapitalistInnen in Sachen Kapitalismus; später kam dann noch die Einsicht in weitere Fronten in Sachen Rassismus und Heterosexismus hinzu.
Heute noch politisch bzw. theoretisch aktive, ältere sozialistische Feministinnen und jüngere Feministinnen, die sich grob in dieser Tradition sehen, scheinen mir heute allerdings oft ein schlechtes Gewissen für die insoweit gebotene Frontstellung gegenüber dem Marxismus zu haben, da sich das Geschlechterverhältnis in den letzten 30 Jahren eher in emanzipatorische Richtung verändert, die Klassenverhältnisse aber eher in Richtung Radikalisierung von Herrschaft und Ausbeutung entwickelt haben.
Meines Erachtens sollte dies allerdings kein Anlaß für ein schlechtes feministisches Gewissen, sondern für die Frage sein, warum es die Lohnabhängigen und die auf sie Bezug nehmenden politischen Gruppen und Organisationen in den letzten 30 Jahren noch mehr vergeigt haben als die Frauen und die feministischen politischen Strukturen (die zwar eine ganze Reihe von Verbesserung für Frauen durchsetzen, aber auch einige Verschlechterungen hinnehmen mußten, aber sexuelle/sexualisierte Gewalt, geschlechtshierarchische Arbeitsteilung, Frauenlohndiskriminierung und der § 218 StGB sind immer noch Realität – das feministische Anliegen ist also längst noch nicht erledigt).
Von den weiter oben angesprochenen Einsichten des revolutionären Feminismus der 1970er und 1980er Jahre abzugehen, besteht auch für den Kampf gegen den Neoliberalismus und das, was als ‚feministischer Neoliberalismus’ oder ‚neoliberaler Feminismus’ gelabelt wird, aber in Wirklichkeit bloße neoliberale Frauenpolitik ist, kein Grund. Denn das, was ab Mitte / Ende der 60er Jahre als Feminismus entwickelt wurde, setzte sich auch in ein »kritische[s] Verhältnis zu sozialistischer und ‚bürgerlicher’ Familien- und ‚Frauen’politik, die nicht den Abbau patriarchaler […] Strukturen anstrebten«. Es ging eben nicht um bloße ‚Frauenförderung’, sondern Feminismus wurde (neu) als »Kampfbegriff gegen Männerherrschaft« entwickelt. Männerherrschaft als gesellschaftliche Struktur wird aber weder vom individualistischen Neoliberalismus und dessen queeren Trabanten noch vom Haupt-/Nebenwiderspruch-Marxismus, der immer noch »Antikapitalismus« als externen Radikalitäts-Maßstab an Feminismus anlegt in den Blick genommen, geschweigen denn: bekämpft.
Detlef Georgia Schulze (Jg. 1967) bloggt und wird manchmal als ReferentIn für Vorträge – vor allem zu Fragen des Geschlechter- und Klassenkampfes und der revolutionären Strategie – eingeladen. Zuletzt sprach er/sie am 29. April in Berlin beim »Selber machen«-Kongreß (Internationale Konferenz zu Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie) zu »Frauen*selbstorganisierung«. Sie/er beendete 2004 eine Dissertation zum Thema Geschlechternormen-inkonforme Körperinszenierungen – Demokratisierung, De-Konstruktion oder Reproduktion des sexistischen Geschlechterverhältnisses? und ist selbst seit 1996/97 transgender.
Eine Fassung des Textes mit ausführlichen Anmerkungen und Literaturhinweisen gibt es hier als PDF.
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