Neonazischwestern überall

Tija Sila über eine Kriegsjugend in Bosnien und deutsche Seltsamkeiten

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Wild, bedrückend genau und dabei hoffnungsvoll komisch«, meint der Verlag. Krass, so habe ich dieses Buch empfunden. Absichtsvoll krass. Als ob der junge Autor mit aller Gewalt auf sich aufmerksam machen wollte, um über einen renommierten Verlag auf den Buchmarkt zu kommen. Als ein »Halbstarker« - so nannte man das in früheren Zeiten -, der beifallheischend ins Publikum blickt, während er sich unablässig in Pose wirft.

Tue ich ihm unrecht? Tijan Sila, 1981 in Sarajevo geboren, 1994 mit seiner Familie nach Deutschland emigriert, hat seinen ersten Roman geschrieben - gleich in deutscher Sprache. Ich schaute ihn mir auf Youtube an. Ein anderer Mann, als ich ihn mir vorgestellt hatte: Berufsschullehrer in Kaiserslautern, erklärt der Verlag. Der Ich-Erzähler ist nach dem Studium der Germanistik und Anglistik in Heidelberg (wie der Autor) Bibliothekar in Frankfurt am Main geworden. Warum eigentlich den Roman nicht als Rollenprosa lesen? Viel Autobiografisches ist verarbeitet, natürlich, aber eben alles auf eine solche Weise zugespitzt, dass es mitunter fast unglaubhaft wirkt. Auf mich. Weil ich in einer anderen Welt lebe?

Es nervt mich, dass fast alle jungen Frauen, mit denen der Ich-Erzähler Umgang hat, Neonazis als Brüder haben, die dann auch noch auf kroatischer Seite am Bosnien-Krieg teilnehmen. Vielleicht hätte ich Neonazis in einem Roman überhaupt nicht gern? Vielleicht genügt es mir ja, von ihrer Existenz aus der Zeitung zu erfahren. Möchte ihnen nicht nahekommen. Was alles noch will ich womöglich nicht sehen?

»Halbstarker« - das meinte in der DDR einen Pubertierenden mit seinen Kapriolen, in der BRD der 1950er Jahre war es ein abwertender Begriff von der Höhe bürgerlicher Wohlanständigkeit herab. »Nietenhosen«, Alkohol und »Rowdytum« - da verweigerten junge Männer die Anpassung, wollten ihren Spaß, weil die Welt der Eltern wenig anziehend und womöglich auch nicht erreichbar war.

Unter den Bombardements in Sarajevo war das bürgerlich Geordnete zusammengebrochen. Da ist die Genauigkeit zu loben, mit der Tijan Sila beschreibt, wie Heranwachsende für sich einen Ausweg suchen aus der verbreiteten Depression. Sie können die Wirklichkeit nicht ändern, aber einen Müllberg anzünden, das können sie. Der Austausch von Videospielen und Comics war eine gefährliche Sache, allein schon, weil man in andere Stadtviertel musste. Wie Gewalt von außen auch zu einem Gewaltregime unter den Jugendlichen führte, hier ist es zu erleben.

»Im Krieg herrscht ein Klima der Krankheit.« Typhus, Skorbut, Mangelernährung: »Keine Libido der Welt konnte Menschen wie uns erotisieren.« - Ich merke, dass mir solche ernsten Reminiszenzen wahrhaftiger erscheinen als das Abenteuerliche, von dem der Roman ja zu weiten Teilen lebt. Es wirkt auf mich wie ein Zugeständnis an den Slogan »extrem gut gelaunt«, mit dem der Verlag nun werben will. Andererseits wäre Sila nicht der Erste, der von einem extrem niedergedrückten Jungen so erzählt.

Sila, aus dem Serbokroatischen (wie aus dem Russischen) übersetzt, heißt Kraft, Macht, Gewalt. Wir erleben einen jungen Mann, dem es an Kraft mangelte und der immer wieder einer Gewalt unterlag. Gleich am Anfang: Schlimm verprügelt, schafft es der Ich-Erzähler in die Notaufnahme eines Krankenhauses. Das war schon in Deutschland und hatte mit einem der Neonazibrüder zu tun. Aber die Rache ist nah. Sarah, Schulkameradin, Ringerin und inzwischen bei der Polizei (auch ihr Bruder ist als Neonazi in Bosnien umgekommen), verpasst diesem Leo eine Abreibung. Selbstjustiz? So geht es eben zu im Roman.

Die Irritation kommt, wie gesagt, auch in Deutschland aus einem Milieu, das intellektuellen Lesern fremd sein dürfte. Aber es liegt an uns, dass wir es nicht kennen und nicht sehen wollen. Die Eltern des Ich-Erzählers waren in Sarajevo gebildete und angesehene Leute: die Mutter Dozentin für Theoretische Physik, der Vater Bibliothekswissenschaftler. »Wir verließen eine Stadt, in der wir Prestige hatten und vernetzt waren.« In Deutschland hat die Mutter wenigstens als Laborhelferin Anstellung gefunden, der Vater wurde Schriftsetzer. So geht das. Wenn der Sohn durch deutsche Städte geht, plagen ihn Zorn und Neid auf die Häuser der Reichen. Denn die haben ihn auf ein Leben verwiesen, wie er es sich nie gedacht hätte. Und dann stellt er sich vor, wie Nadine mit ihrer wohlhabenden Familie (ihr Bruder natürlich auch Neonazi) in Sarajewo unter den Notleidenden wäre und er mit umgehängter Maschinenpistole Hilfsgüter für sie heranschaffen würde. Eine tolle Szene, wie der Roman viele hat.

So mag das reiche Deutschland die Mehrzahl der Migranten enttäuschen. »Wären wir in Bosnien geblieben, hätte man mir als Kollegenkind bestimmt einen Doktortitel mit dazugehöriger Dozentur nachgeworfen. Ich wäre ein Akademiker in einem Land gewesen, das von Akademikern verlassen wird, sobald sie in der Lage sind, ein Buch von Wolfgang Hohlbein zu lesen. Jene die bleiben, sind entweder Idealisten oder Idioten. Frauen wären verrückt nach mir gewesen, weil ich lesen und schreiben kann.«

Tijan Sila: Tierchen unlimited. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 222 S., geb., 18 €.

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