Die herzlich bissige Kino-Eule
Ein Nachruf auf Renate Holland-Moritz
Sie litt seit langem an einer Lungenkrankheit und sprach gelegentlich: »Ich bin doch seit zehn Jahren tot, wer kennt mich denn noch?« Wir, ihre Freunde, wiesen diese Frage als rein rhetorisch zurück – aber vielleicht sah sie doch klar jenen Stempel, den man nicht nur der DDR, sondern auch all ihren klugen und kritischen Vertretern aufdrückte: Alles hat falsch zu sein im falschen System.
Renate konnte keine Lesungen mehr wahrnehmen, eine ihrer Hauptvergnügungen, wie sie es ausdrückte: Vorlesen mit Betonung. Immerhin schrieb sie bis zu ihrem achtzigsten Geburtstag vor zwei Jahren die Kino-Kolumne im »Eulenspiegel« und richtete Filme nach ihrem Bilde. Nun kam zur Dauer-Krankheit der Krebs. Am Mittwochmorgen ist sie in Berlin gestorben, im Virchow-Klinikum, in dem sie auch geboren wurde.
Die als typisch geltende Berlinerin verbrachte ihre Jugend in Thüringen, in Steinbach-Hallenberg, wohin ihr kommunistischer Vater vor den Berliner Nazis ausgerückt war. In Thüringen fand er die heimischen Nazis – aber es halfen ihm Familien-Bande, jenes Wort mit dem Beigeschmack von Wahrheit, wie Karl Kraus es formulierte. Die im Süden der DDR beheimateten Volksstämme konnte Renate folglich wunderbar nachmachen, eines ihrer Bücher hieß denn auch »Die schwatzhaften Sachsen«.
Ein Merkmal dieser DDR-Aufbau-Generation, speziell ihrer Intellektuellen, um nicht zu sagen, Kult-Autoren, war eine gediegene Bildung. Renate besaß dieselbe in hohem Maße, war von einer sprachlichen Präzision, die ihresgleichen sucht. Dabei hatte sie nie eine höhere Lehranstalt absolviert. Sie bildete ihre Subjektivität am lebenden Objekt: verschiedenen Blättern in Berlin, bis sie mit gerade 21 Jahren beim »Eulenspiegel« landete. Und dort entwickelte sie zwei ihrer herzlichen, bissigen Lüste: Filme und Schauspieler treffend charakterisieren; genau, scharf, pointiert und stilsicher schreiben.
Unter ihren zwei Dutzend Büchern ragen die drei Bände »Die Eule im Kino« (1981, 1994, 2005) heraus: Zeitgeschichte, Kunstgeschichte, Lebensbilder, Sprachkritik; man kann sich in trefflichen Häppchen ein Sittenbild der vergangenen 60 Jahre aneignen. In »Die tote Else« und »Die tote Else lebt« schrieb sie allerlei von jenen Erlebnissen mit lieben Mitmenschen und fiesen Kollegen, die anderswo Memoiren heißen. Apropos: Kollege Mathias Wedel sagte über sie: »Sie kann besonders gut schlecht über andere Menschen sprechen.« Sie konnte aber auch wunderbar schwärmen; sie war schlecht im Verzeihen und sehr gut im Erinnern. Sie besaß Briefe, Beschimpfungen und Herzenswünsche, nicht direkt von Gott, aber von aller Welt. Darüber hätten wir gern noch mehr erfahren.
Liebe Renate, Dein Humor, Dein Wissen, Deine Pointen und Deine scharfen, begründeten Urteile werden uns fehlen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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