Vergangenheit, die nicht vergangen ist
An der Dresdner Semperoper ist Mieczysław Weinbergs »Die Passagierin« in einer großartigen Inszenierung angekommen
Selten ist der Wunsch der Einlasser in der Oper für einen »schönen Abend« so deplatziert wie im Falle von Mieczysław Weinbergs »Die Passagierin«. Denn schön ist daran nun wahrlich nichts. Und doch es ist ein bestürzend großartiger Abend. Der zudem wie maßgeschneidert in eine Zeit passt, in der (ausgerechnet vor der Semperoper) laut für ein großes Vergessen gebrüllt wird.
Die Geschichte verschlägt einem den Atem, weil sie den von Deutschen verantworteten Zivilisationsbruch in der Mitte des 20. Jahrhunderts auf die Opern-Bühne bringt. Marta, jene Frau, die als Passagierin dem Werk den Titel gegeben hat, hat die Hölle von Auschwitz überlebt. Zu Beginn der 60er Jahre begegnet sie durch Zufall einer Aufseherin wieder, die ihrerseits davon ausgehen musste, dass sie für ihren Tod auch individuell verantwortlich war. Die heute 93-jährige Zofia Posmysz ist das Vorbild für diese Marta. Sie hat ihre Geschichte in dem Roman verarbeitet, der für Weinbergs Librettisten zur Vorlage für dessen wichtigste Oper wurde. Kein Geringerer als dessen Lehrer und Freund Dmitri Schostakowitsch hat »Die Passagierin« als Meisterwerk erkannt. Obwohl weder er, noch ihr Komponist sie je auf der Bühne erlebten. Dabei hatte der von den Nazis in die Sowjetunion geflohene Weinberg (der da in die Fänge von Stalins Repressionsapparat geriet und nur durch den Tod des Diktators davon kam) sogar noch die Perestroika und die Auflösung der Sowjetunion miterlebt, bevor er 1996 in Moskau starb.
Weil die poststalinistischen Russen Vorbehalte gegen sein 1968 vollendetes Werk hatten und sich auch der Westen nicht gerade mit Entdecker-Ruhm bekleckerte, kam es erst 2010 in Bregenz zur szenischen Uraufführung. Als emotionales Großereignis! Danach zogen auch in Deutschland, wo diese Oper selbstverständlich auf die Spielpläne gehört, einige Häuser nach.
Die schon in Frankfurt gezeigte Inszenierung von Anselm Weber hinterließ jetzt auch in Dresden großen Eindruck. Wie bei der Uraufführung verlieh Zofia Posmysz der Premiere durch ihre Anwesenheit das Siegel der Authentizität. In der zweiten Vorstellung entfaltete der erste Teil eine solche Wirkung, dass das Publikum zur Pause, als das Saallicht langsam aufdämmerte und die Namen und Registriernummern Ermordeter auf die Lammellenwand des Schiffsrumpfs auf der Bühne projiziert wurden, sich jeden Beifall versagte. Der fiel dann am Ende um so ausgiebiger aus.
Katja Haß hat den angeschnittenen Rumpf eines Ozeanschiffes auf die Drehbühne gebaut. Hier glaubt die Diplomatengattin Lisa (Christina Bock) 1960 jene Marta (Barbara Dobrzanska) zu erkennen, die in ihrer Erinnerung den Todesblock in Auschwitz unmöglich überlebt haben kann. Durch die Begegnung wird sie so verunsichert, dass sie ihrem Mann (Jürgen Müller) das erste Mal von ihrer Vergangenheit in der SS-Uniform als Aufseherin in Auschwitz erzählt (»Ich habe an den Führer geglaubt«). Er ist so entrüstet, wie es ein bundesdeutscher Diplomat zu sein hat und so nervös, was seine Karriere betrifft, wie es viele Beamten der jungen Bundesrepublik wohl aus guten Gründen waren. Dabei hat sich Lisa ihre »Beziehung« zu Marta natürlich so zurecht gelegt, dass sie damit gut leben kann. So nach dem Motto: ich hab ja versucht, zu helfen, hab beim heimlichen Rendezvous mit ihrem Verlobten weggesehen, und doch haben sie uns alle einfach nur gehasst …
Weinberg macht aus Lisa dennoch kein Monster, sondern überlässt dem Zuschauer die Chance und stellt ihn vor die Herausforderung, sich auch in die Täterperspektive zu versetzten. Und der Regie gelingt das, indem sie zwischen den Zeiten changiert und jenes Maß der Darstellung von Grausamkeit findet, die nicht vorführt, sondern in Bilder übersetzt. Außen ist es das Schiff bei der Überfahrt zum neuen Dienstort von Lisas Mann nach Brasilien. Innen die Vergangenheit des Lagers. Und da geht das Herausgreifen und Wegzerren einzelner durch die mit zynischen Sprüchen aufwartenden Wachmannschaften vielleicht noch mehr an die Nieren, als eine nachgebaute Rampe ..
Das durchweg überzeugende Protagonistenensemble, der Chor und die Sächsische Staatskapelle unter Leitung von Christoph Gedschold sorgen dafür, dass Weinbergs grandios vielschichtige Musik die Wucht der Geschichte voll entfalten kann.
Nächste Vorstellungen (nur noch) am 5. und 9. Juli 2017; www.semperoper.de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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