Die Erfindung des Aussteigers
Henry David Thoreau dachte schon im 19. Jahrhundert darüber nach, wie ein Leben abseits bürgerlicher Ökonomie aussehen könnte
Man ringe im Hause Thoreau beständig um den rechten Glauben, vermeldet Frank Schäfer lapidar in seiner soeben bei Suhrkamp erschienenen, auf anregende Weise informativen Biographie »Henry David Thoreau. Waldgänger und Rebell«. Der Vater des am 12. Juli 1817 in Concord, Massachusetts, Geborenen, ist ein wenig erfolgreicher Bleistiftfabrikant, aber man strebt ohnehin nach Höherem: »Die einzelnen Familienmitglieder wechseln kreuz und quer die Konfessionen, besuchen Gottesdienste der Trinitarier, der Unitarier – und wieder retour.«
Es sind lauter Gottsucher – nur einer, der hat seinen Glauben sehr bald gefunden: Henry David tritt aus der Kirche aus und dient fortan nur noch einem Gott: dem, der sich in den kleinsten und unwürdigsten Dingen zeigt, vor allem in der Natur. Ein Mystiker, ein Pantheist, der ohne Schwierigkeiten Franz von Assisi und Rousseau in sich verbindet, dabei einen genauen Blick für die Selbstversorger-Ökonomie entwickelt.
Dafür hat er auch ein Vorbild: Ralph Waldo Emerson, der mit seinem Buch »Natur« für einen spirituellen Aufbruch jenseits der Kirchen sorgt. Man könnte es auch die Gründungsurkunde der ökologisch-esoterischen Aussteigerkommunen nennen, die bald folgen werden und für die Thoreau mit seinem Buch »Walden« eine Art Popstar wurde. Ja, dieser von Glaubensfragen von Kind an umstellte Thoreau trägt die Anlange zum Sekten(ver)führer in sich. Er sagt anderen gern und ausführlich, wie sie richtig leben sollen.
Sein Lebenswerk besteht eigentlich nur aus Tagebüchern, 14 Bände mit über 7000 Seiten sind überliefert, »Walden«, der Bericht über sein Aussteiger-Experiment, das zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage dauerte, ist ein Teil dieser Notate. Aber was heißt »nur«? Das Tagebuch ist wohl die intimste Form von Literatur, in dem das Persönliche mit dem Universalen immer neue – literarisch überraschende – Symbiosen eingeht.
Nur etwas bewahrt ihn davor, so wie die vielen anderen Apostel des wahren Lebens zu werden: Thoreau besitzt einen starken Drang zur Einsamkeit und Einfachheit. Vor allem aber zur inneren und äußeren Unabhängigkeit! Da ging es ihm wie Hermann Hesse, der sich von Ralph Waldo Emerson und Thoreau stark beeindrucken ließ.
Diese frühen Aussteiger suchten nach einem ihnen gemäßen Leben. Sie brauchten Vorbilder, aber diesen dann auch zu folgen, davor bewahrte sie ihr starker Eigensinn, den sie für nichts und niemanden aufzugeben bereit waren. Henry studiert in Harvard, bekommt nach dem Examen sofort eine lukrative Lehrerstelle – und kündigt nach einer Woche bereits wieder. Er weigert sich, die übliche Prügelstrafe anzuwenden. Also lebt er – ohne Einkommen – wieder bei den Eltern, hilft dem Vater in der schlecht laufenden Fabrik, entwickelt schließlich ein die Bleistiftherstellung revolutionierendes Verfahren, bei dem die Graphitmine direkt in die Mitte des Holzes eingeführt wird (bislang war das Holz aus zwei Teilen geleimt gewesen). Es ist seine genaue Beobachtungsgabe, der Sinn für die praktischen Details, der ihn von den bloßen Naturschwärmern unterscheidet.
Mit 20 beginnt er jenes Tagebuch zu führen, dessen Teil »Walden oder Leben in den Wäldern« weltberühmt werden wird. Er ist 21, als er Ralph Waldo Emerson kennenlernt. Dieser notiert, es sei Thoreau leichter gefallen, Nein als Ja zu sagen. Seine kultivierte Form von Selbstbeschränkung habe ihn zum freien Menschen gemacht: »Er wollte lieber allein mit seinen Gedanken und der Natur sein und hielt dies zweifellos für weise. Es war ihm nicht gegeben, ein Vermögen zu machen, und er verstand es arm zu sein, ohne im geringsten elend oder derb zu wirken.« Dieser schöne Essay von Emerson ist nachzulesen in dem bei Jung und Jung erschienenen Band von Thoreau »Ktaadn«.
Zu seinem 200. Geburtstag sind zwei Bände Tagebücher bei Matthes & Seitz erschienen. Holger Teschke deutet in einem präzis Wirkungsräume auslotenden Nachwort den »zivilen Ungehorsam« als eine gegenwärtig noch weiter an Relevanz gewinnende Thematik bei Thoreau. Als dritter Band kommt »Lob der Wildnis« (in der gediegenen Übersetzung von Esther Kinsky) hinzu. Mit diesen drei Büchern gelingt es Matthes & Seitz, einen unübersehbaren Thoreau-Schwerpunkt zu setzen. Mit »Wildnis« übrigens ist bei Thoreau offenbar ein nicht zu streng bewirtschafteter Garten gemeint, in dem Erdbeeren und Bohnen gleichermaßen ihre Freiheitsrechte wahren.
Die Grundproblematik, um die Thoreau auf obsessive Weise kreist, lautet: Wie kann man mit einfachen Mitteln ein Leben führen, das sich den Fremdbestimmungen, die sich als Fortschritt ausgeben, erfolgreich entzieht? Alles wird schneller und also auch leichter – aber darum auch besser? Die Eisenbahn ist für Thoreau eine diabolische Erscheinung, die sich mit einem vorgetäuschten Nutzen tarnt.
In »Walden« finden wir die Pole benannt, zwischen denen Thoreau als Prophet eines gelingenden Lebens pendelt. Einer der ersten Sätze im Abschnitt »Töne« kommt voller Pathos daher: »Lies dein Schicksal, sieh, was vor dir liegt und schreite vorwärts in die Zukunft hinein.« Der darauf folgende Satz jedoch wirkt wie auf Knien geschrieben, doch nicht devot vor einer höheren Macht gebeugt, sondern um dem fruchtbaren Boden näher zu sein: »Im ersten Sommer las ich keine Bücher; ich pflanzte Bohnen.« Man muss die Früchte genau kennen, die man genießen will! Damit senkt er der kommenden Konsumkultur den Stachel der freiwilligen Selbstbeschränkung ins Fleisch.
Die Poesie dieser Texte erwächst aus ihrer Doppelbewegung: Zum einen hin zum fernen Ziel eines unabhängigen einfachen Lebens, das sich Gesetzen nur beugt, wenn sie im Einklang mit dem eigenen Gewissen stehen, zum anderen eher statuarisch als Gärtner, der es für obszön hält, Dinge, die von allein wachsen, oder die man mit wenig Aufwand selbst herstellen kann, für Geld auf dem Markt einzukaufen.
Walden heißt das Projekt, aus dem schließlich ein Buch wurde, das überdauerte. Leben in der Wildnis? Das allerdings weckt falsche Assoziationen: die Hütte, die sich Thoreau 1844 auf einem Grundstück von Emerson mit eigenen Händen baute, liegt gerade einmal drei Kilometer von der Stadt Concord entfernt. Eine Eisenbahnlinie führt direkt vorbei, die Eisenbahner grüßen, vermuten in ihm einen Streckenarbeiter. Häufig kommt Besuch und fast täglich spaziert er, um zu hören, was es Neues gibt, in die Stadt. Ein Eremit ist er nicht, und der stilisierte Wald scheint eher ein Park. Wenn er gar kein Geld mehr hat, arbeitet er einen Tag für andere als Gärtner, Tischler oder Landvermesser, aber nie mehr als nötig. So erfindet er nebenbei auch noch das Jobben als Alternative zur Festanstellung. Entscheidend bei dieser Art von Kuraufenthalt in der Natur wird für ihn, das Maß von Müßiggang und Aktivität selbst zu bestimmen.
Das Wozu allen Tuns gilt es ständig zu bedenken. Nur, wer das Alleinsein sucht, fürchtet die Einsamkeit nicht. Die »Wildnis« wird dabei zum symbolischen Ort, spielerisch zu leben, etwas auszuprobieren, ohne andere für dieses Experiment zu instrumentalisieren. Das hatte bei Thoreau einen sehr konkreten politischen Bezug: seinen vehementen Protest gegen die Sklaverei! Darum auch seine Weigerung, Steuern zu bezahlen, die ein ungerechtes System erhalten. Eine Nacht sitzt er im Gefängnis, dann zahlt jemand für ihn die ausstehende Summe. Für Thoreau, der mehr ist als ein kauziger Gärtner, gilt: Wenn die herrschenden Gesetze schlecht sind, bist du frei, sie nicht zu beachten, sofern du deinem Gewissen folgst.
Im 20. Jahrhundert hat Thoreau nicht erst in der amerikanischen Jugendbewegung der 60er Jahre begeisterte Nachfolger gefunden, sondern auch schon in den 30er Jahren in Frankreich bei Denis de Rougemont. Dieser verließ Paris – fast ohne Geld – und zog aufs Land. Sein »Tagebuch eines arbeitslosen Intellektuellen« ist eines meiner Lieblingsbücher. Es nimmt Thoreaus Diktum »Wer einen Beruf ergreift, ist verloren!« auf und sucht nach jener »unschuldigen, fröhlichen Einfachheit«, der nichts Selbstquälerisches anhaftet.
Wie es denn aussehen könnte, das andere Leben, darüber sollte man Muße finden, nachzudenken: »So manche sagen: sehen wir zu, daß wir fortkommen, aber sie bleiben mangels Einbildungskraft.« – Mehr als um Stadtflucht aber geht es bei Thoreau, Emerson oder Denis de Rougemont um etwas, das ein scheinbar Profanes auf besondere Weise zum Leuchten bringt: gelebte Poesie.
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