Da liegt Musik drin
Beim Zuschlagen von Steinwerkzeugen agieren Hirnbereiche, die auch bei Musikern besonders aktiv sind
Vor ungefähr 1,75 Millionen Jahren wurde die Technik der Erzeugung von Steinwerkzeugen revolutioniert. Damals begannen die Frühmenschen der Acheuléen-Kultur damit, mit einer zweiseitigen Klinge, regelmäßig herausgearbeiteten Kanten und einer abgerundeten Grifffläche ausgestattete Faustkeile herzustellen. Die nicht leicht anzufertigenden Faustkeile waren vielfältig verwendbar - zum Schneiden, Schaben oder Hacken. Davor hatte es nur die grobschlächtigen Artefakte der Oldowan-Kultur gegeben - simple Gesteinsbrocken und durch Abschläge gewonnene Steinsplitter.
Es ist allerdings nach wie vor nicht geklärt, über welche geistigen Fähigkeiten die altsteinzeitlichen Faustkeilerfinder verfügten und ob sie bereits mit einer Art Protosprache ausgerüstet waren. Doch jetzt hat sich ein Forscherteam unter der Leitung der Anthropologin Shelby S. Putt vom Stone Age Institute in Bloomington (US-Bundesstaat Indiana) ein Experiment einfallen lassen, um der Sache auf den Grund zu kommen. Die Wissenschaftler berichten über ihre Befunde im Fachblatt »Nature Human Behaviour« (doi: 10.1038/s41562-017-0102).
An dem Experiment nahmen insgesamt 31 Testpersonen teil. Zunächst wurden 15 von ihnen Videos mit Tonspur und den übrigen 16 Videos ohne Ton gezeigt. In diesen Filmen wurden die erforderlichen Techniken der Steinbearbeitung in allen Einzelheiten vorgestellt. Danach erhielten die Probanden die Aufgabe, die beiden Typen von Steinwerkzeugen selbst herzustellen. Während die Versuchspersonen mit der Werkzeugerzeugung beschäftigt waren, wurde mithilfe der funktionalen Nahinfrarotspektroskopie untersucht, was sich in ihren Gehirnen abspielte. Dieses neuartige Verfahren hat gegenüber der Magnetresonanztomografie den Vorteil, dass es den körperlichen Bewegungsspielraum der Versuchspersonen kaum einschränkt.
Das Experiment förderte etwas Verblüffendes zutage. Wie nicht anders zu erwarten, waren bei der Anfertigung der primitiven Oldowan-Geräte in erster Linie die Gehirnareale aktiviert, die für die Verarbeitung optischer Reize und die Steuerung körperlicher Bewegungsabläufe zuständig sind.
Doch ganz anders ging es im Hirn der Faustkeilmacher zu. Dort liefen zusätzlich das visuelle Arbeitsgedächtnis und jene Regionen auf Hochtouren, die auf akustische und taktile Reize und die Planung von Handlungen spezialisiert sind. Erstaunlicherweise sind das genau die Gehirnareale, die immer dann gemeinsam in Aktion treten, wenn professionelle Musiker ein Instrument spielen. »Es ist faszinierend, dass die gleichen Netzwerke beim modernen Menschen für das Spielen von Musikinstrumenten benötigt werden«, erklärt John Spencer, einer der Co-Autoren.
Hingegen deutet nichts darauf hin, dass den Versuchspersonen ihr Sprachzentrum bei der Herstellung der Faustkeile viel genützt hätte. Denn nur bei denjenigen Versuchspersonen, die sich die Technik des Faustkeilfabrizierens durch das Betrachten eines Videos mit Ton angeeignet hatten, regte sich das Sprachzentrum. Trotzdem brachten sie keine besseren Werkzeuge zustande als die anderen Probanden.
Doch warum war bei den Faustkeilmachern auch das Hörzentrum aktiviert? Weil - behaupten Putt und ihre Mitstreiter - die Geräusche und Klänge, die bei der Bearbeitung der Rohlinge entstehen, den Ohren präzise anzeigen, wo die Schläge jeweils zu setzen sind und wann man kräftig und wann man behutsam schlagen muss.
Dieser Umstand - spekulieren die Forscher - könnte dazu geführt haben, dass sich das Gehör der paläolithischen Faustkeilmacher immer mehr verfeinerte und schärfte. Und der hoch entwickelte Hörsinn könnte schließlich die Grundlagen für die Evolution des menschlichen Sprachvermögens gelegt haben. »Die Studie bringt entscheidende Netzwerke zum Vorschein, die möglicherweise den Übergang zu einer der typisch menschlichen Intelligenz ähnlicheren Form vor ungefähr 1,75 Millionen Jahren bedeuten. Wir glauben, dass dies einen Wendepunkt in der Evolution des menschlichen Gehirns bedeutete, der zur Evolution einer neuen Menschenart führte«, resümiert Shelby Putt.
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