Leben in Kurven und Sprüngen

Dem Dirigenten und Komponisten Michael Gielen zum 90. Geburtstag

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 6 Min.

Er, der sich unterdes zur Ruhe gesetzt hat, war ein Präzisionsdirigent im nichtmaschinellen Sinn. Jede Aufführung sollte aufs Genaueste eine Innovation aus dem Geist der Musik ergeben. Michael Gielen, stand er am Pult, war unerbittlich streng sich selbst und den übrigen Aufführenden gegenüber.

Ist einer wenig freundlich, ohne ungerecht zu sein, immer streng, weil das Notenbild es will, immer konzentriert auf das Wesentliche, perfekt vorbereitet, so kann das bei Musikern, und nicht nur bei diesen, durchaus ungute Gefühle hervorrufen. In Berlin, so erzählten Musiker des dortigen Konzerthausorchesters, hätte es schon mal Proteste gegeben, wenn nicht nach außen hin, so doch innerlich. Andere bewunderten jene Unerbittlichkeit, weil sie der Qualität der Aufführung dienlich war.

Fast sieben Dezennien künstlerische Praxis und ein so stetes wie unstetes Leben liegen hinter Gielen. 2014 nahm er Abschied von seinen Verpflichtungen in Studio und Konzertsaal, von den Reisen um die Welt. Heute lebt er mit seiner Frau zurückgezogen in den Bergen des Salzburger Landes und fühlt sich zunehmend als Österreicher. Wohl darum, weil auch Gustav Mahler und Arnold Schönberg Österreicher waren und Mozart eine Zeit lang, wenn auch mit unguten Gefühlen, Salzburger war. Komponisten, die jeder für sich schon vor Beginn seiner Laufbahn für Gielen von größter Bedeutung waren.

In seltener Konsequenz beschreitet dieser Mann, der an diesem Donnerstag seinen 90. Geburtstag begeht, seinen Weg: ein Mann mit ehernem Berufsethos, eingebunden in einen Betrieb, dessen Geschäftsgebaren und Superstarwesen er so sehr verachtet, wie er die Konzertform aufs Originellste erneuert hat. Erste Bedingungen findet der Dirigent bei öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten vor. Dort kann er über Jahrzehnte hinweg seinen Intentionen freien Lauf lassen. Hier finden seine innovatorischen Ideen Widerhall, und er kann sie ungehindert realisieren. Mit Rundfunkorchestern und -chören bewerkstelligt er zahllose Aufnahmen von hoher Qualität. Reihenweise dirigiert er Werke der Wiener Schule um Schönberg und die Moderne vorantreibende Stücke der Avantgarde um Stockhausen, Boulez, deren Genies er bewundert, Nono, dessen politische Gesittung er teilt, den Argentinischen Freund Mauricio Kagel, den jüngeren Lachenmann, auf dem viel Hoffnung liegt ... Hoch geschätzt ist Gielens Musikertum auch, weil er im Gegensatz zu den meisten anderen Dirigenten selbst komponiert.

Älter und erfahrener geworden, musiziert er irgendwann Gustav Mahler mit der gleichen Hingabe wie den um keinen Deut minderen Anton Bruckner. Er habe sich, sagte Gielen einmal, »die Literatur von heute nach rückwärts erobert«. Der Weg ging von Schönberg über Mahler zur Romantik und Klassik. Berlioz wurde ihm eine Zeit lang sehr wichtig, und Schubert, Beethoven ohnehin.

Michael Gielens Biografie kennt keine geraden, ebenmäßigen Wege. Die Extreme im vergangenen Jahrhundert zwangen ihm einen Lebenslauf in Kurven und Sprüngen auf. Geboren 1927 in Dresden, wuchs er in Argentinien auf, wohin seine Familie 1940 von Berlin aus vor den Nazis geflohen war. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs wird seine Entwicklung als Musiker maßgeblich in der Kulturmetropole Wien geprägt, wo seine Mutter als Schauspielerin und sein Vater als Burgtheater-Intendant tätig sind. Die 1960er Jahre über dirigiert er fast ausschließlich Neue Musik. Die jungen Avantgardisten drängen sich um ihn herum in dem Willen, aufgeführt zu werden.

Seiner Aktivität gesellen sich in jener Zeit auch Tumulte und manche Empörung seitens der Verfügenden wie der Adressaten bei, ein Vorgang, den Gielen nicht erst als Dirigent des Kölner Rundfunk-Sinfonieorchesters erleben darf, sondern als eine Dauerreaktion der Konservativen am Leib spürt. Als 1965 Stockhausens »Gruppen für drei Orchester« unter Gielen, Maderna und Stockhausen selbst zur Aufführung gelangt, wird das Werk mit einem Buh- und Pfeifkonzert aufgenommen, wie es in dieser Stärke noch kaum zu hören war. Die frühen Genie-Blitze Karl-Heinz Stockhausens vermochten den Donner auszulösen.

Damals hauptsächlich auf Gegenwartsmusik verpflichtet, erwarten Gielen gleichzeitig internationale Aufgaben als Orchesterchef. Stationen sind die Königlichen Oper Stockholm, das Belgische Nationalorchester, das BBC Symphony Orchestra in London. 1980 holt ihn das Cincinnati Symphony Orchestra zu sich als »Music Director«. Künstlerisch sehr erquicklich für ihn die Jahre 1977 bis 1987 in seiner Eigenschaft als Direktor der Frankfurter Oper und Generalmusikdirektor der Stadt Frankfurt am Main. Gelegenheit, mit ersten Regisseuren aus Ost und West - Ruth Berghaus, Harry Kupfer, Hans Neuenfels - zu experimentieren und zu neuen Ufern des Musiktheaters vorzustoßen. Mozarts »Entführung«, der »Fidelio« Beethovens, Wagners »Parsifal« und »Ring«, Verdis »Aida«, Busonis »Doktor Faust« etwa kamen, entschlackt, zur Aufführung. Die Aufführungen schlagen international Wellen. An der Seite von Gielen qualifizierten junge Begabungen wie Ingo Metzmacher und Peter Hirsch ihr Dirigierhandwerk. Er sei stolz, so zu lesen in seiner Selbstbiografie »Unbedingt Musik«, mit der Frankfurter Oper »das avancierteste Musiktheater in Deutschland« gemacht zu haben. Sehr hoch bewertet er die Zusammenarbeit mit Ruth Berghaus (Mozarts »Zauberflöte«, Berlioz’ »Die Trojaner«).

Nicht minder ergiebig sind die Jahre 1986 bis 1999, in denen er als Chefdirigent des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg mit Programmen aufwartet, worin die Gegenwartsmusik mehr als anderswo einen festen Platz hat. Der Ertrag manifestiert sich in zahlreichen erstklassigen CD-Einspielungen. Nach der deutschen Vereinigung geht Gielen nicht von ungefähr nach Ostberlin, um dort seine Erfahrungen als Gastdirigent der Staatsoper Unter den Linden (Einstieg mit Debussys »Peléas et Melisande« in der Regie von Ruth Berghaus) und ständiger Gast des Berliner Sinfonieorchesters, des späteren Konzerthausorchesters (sensationell die Aufführung von B. A. Zimmermanns »Requiem für einen jungen Dichter«) einzubringen.

Resultate des Komponist Gielen gehören wenigstens erwähnt. Erste Stücke schreibt er in den 50er Jahren. Meist Kammermusik. Anfang der 1960er Jahre entsteht »Ein Tag tritt hervor« - Pentaphonie für obligates Klavier, fünf Soloinstrumente, fünf Vokalgruppen und Sprecher auf Worte von Pablo Neruda. Ein Werk, das es verdiente, wiederaufgeführt zu werden. Viel später, 1988, dann »Pflicht und Neigung« für Bläser, Schlagzeug und Tasteninstrumente. Das Stück beruht auf Material aus dem Streichquartett, das er fünf Jahre zuvor für das LaSalle Quartett geschrieben hatte. Die innere Spannung des im Titel ausgedrückten Gegensatzes kostet die Musik in farbigen Formulierungen aus. Melodisches Schlagzeug klingt bisweilen wie die Klänge von Spieluhren. Zum Reservoire gehören - vor allem im Schlussdrittel - höchst subtile, sorgfältig austarierte Holz- und Blechbläsersätze.

»Mein Programm-Ideal: ein Stück in die Nähe eines anderen zu rücken, damit das erste sein Licht auf das zweite wirft und umgekehrt, und beide Werke wie neu erscheinen.« Dem entspricht, wenn unter seiner Hand Schuberts »Rosamunde«-Orchesterstücke mit den »Sechs Stücken für Orchester« op. 6 zusammentreffen oder Beethovens »Neunte« mit Schönbergs »Überlebenden von Warschau«. Erstmals erklingt in den 1990er Jahre der in Avantgardekreisen missliebige Schostakowitsch, sowjetische Musik, die Gielen nie zuvor dirigiert, ja, gemieden hatte: die Sinfonie Nr. 12 »Das Jahr 1917«. In der Semperoper hält er auch eine kurze Rede. Darin macht sich sein ganzer Unmut darüber Luft, was die »neue Epoche« täglich anrichtet.

Soeben erschienen: Michael Gielen Edition Vol. 5 (1967 - 2014) mit Interpretationen von Musik Béla Bartóks und Igor Strawinskys (Naxos).

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