Mächtig gewaltig
Hier Ruf nach Distanzierung, da Schuldzuweisung ans kapitalistische System: über den Begriff der Gewalt und Neues aus der Sozialforschung
Ein Wort besonders oft zu hören, heißt nicht unbedingt, dass damit auch schon alles gesagt ist. Oder das Wichtigste. Mitunter sind Begriffe auch Vorhänge, hinter denen das, was in ihnen eigentlich steckt, verborgen bleibt. Ein zentraler Begriff der Debatte nach der G20-Randale in Hamburg ist so ein merkwürdiges Gebilde: Gewalt.
Im Deutschen bezeichnet das Wort nicht nur gegen andere eingesetzte, rücksichtslose physische Kraft, sondern zugleich Macht und Mittel, über jemanden zu bestimmen. In der Gewalt steckt sozusagen ihr Gegenteil drin: die als staatliches Monopol legitimierte Herrschaft, andere Gewalt zu unterbinden, zu verfolgen. Der Ursprung ist sprachlich rund 1000 Jahre alt: »waltan« heißt im Althochdeutschen »stark sein, beherrschen«.
Wenn nach den Krawallen im Schanzenviertel, die - was inzwischen auch schon fast vergessen scheint - nur einen Teil der Auseinandersetzungen zwischen Staatsmacht und Demonstrierenden, Versammlungsrecht und Sicherheitspolitik, zwischen »Straße« und »Gipfel« ausmachten, von den friedlichen Demonstrationen und den Ergebnissen des Gipfels selbst ganz zu schweigen, nun allerorten nach einer Distanzierung von Gewalt gerufen wird, schwingt die Mehrfachbedeutung des Begriffs nach.
Fordert jemand, sich von Polizeigewalt zu distanzieren?
Natürlich meint niemand von denen, die das einfordern, die staatlichen Gewalten, auch nicht die »vierte Gewalt«. Wenn nun sogar der Begriff »Polizeigewalt« nicht mehr benutzt werden soll, wie einige fordern (hat eigentlich schon jemand verlangt, irgendwer solle sich von Polizeigewalt distanzieren?), wenn ein Regierender Bürgermeister gegen alle dies bezeugenden Bilder sagt, es habe eine solche Polizeigewalt gar nicht gegeben, ist das aber nur die eine Seite einer Politik mit (oder hier: ohne) Begriffen.
Denn jene, denen im Fall der Hamburger Randale physische, nicht legitimierte, strafbewehrte Gewalt vorgeworfen wird, ziehen sich auch gern mit einem begrifflichen Zug aus der Affäre - dem Hinweis, es handele sich doch um »Militanz«. Selbst wenn man dem Vorgang eine politische Dimension zumisst, was sinnvoll ist, selbst wenn man hierin keine Form des Insurrektionalismus sehen will, also der praktischen Rebellion zu einem politischen Zwecke, bleibt es doch ein sprachliches Ausweichmanöver: Die Aktion bleibt gewalttätig, sie zum »Riot« zu erklären, ist der Versuch, sie aus dem Dunstkreis eines politisch munitionierten Gewaltbegriffs zu ziehen. Einem Gewaltbegriff, der in der Tat einseitig ist. Man könnte von einer diskursiven Verteidigungshandlung sprechen, die um den Kern dessen, was da an den brennenden Barrikaden der Schanze geschah, aber selbst auch einen Bogen macht.
Johan Galtung und die »Strukturelle Gewalt«
Es gibt noch ein zweites Reaktionsmuster, und in diesem wird die eine Gewalt mit der anderen Gewalt aufgewogen, durch sie erklärt, mit ihr verteidigt. Schon vor dem ersten Steinwurf von Hamburg war dieser mit dem Abwurf einer Bombe durch die USA, mit der allgemeinen Gewaltförmigkeit der herrschenden Verhältnisse »erklärt« worden - im Sinne von: einen möglichen Grund dafür angeben.
Der Begriff, der für diese universelle Gegenargumentation steht, ist viel älter als die meisten, die in Hamburg auf der Straße waren: »strukturelle Gewalt«. Der vor 50 Jahren von Johan Galtung geprägte Begriff wird heute einerseits empört als Verharmlosung von Straftaten zurückgewiesen von denen, die in der Randale nichts Politisches mehr sehen können, was auch heißt: keine sozialen und ökonomischen Ursachen mehr sehen wollen. Die Gewalt der Randale ist im Feuilleton dieser Tage oft zur »natürlichen Sehnsucht« gemacht worden, als »Überforderung mit dem Frieden« beschrieben worden, was auf eine Kritik der Undankbarkeit für die als gut behaupteten Verhältnisse hinausläuft. So gesehen ist die Randale nichts als Freizeitaktivität am Rande der Legalität. Denen, die so reden, geht es meist darum, das Argument von der Militanz zurückzuweisen, die von Teilen der Linken als Ausdruck und Antrieb gesellschaftlicher Konflikte ins Schaufenster des eigenen Selbstverständnisses gestellt wird.
Der »Aufruhr« als »Grenzposition des Politischen«
Umgekehrt aber banalisiert meist auch die Anrufung der »strukturellen Gewalt« durch Linke die gesellschaftliche Einbettung, die Widersprüchlichkeit dessen, was da in Hamburg passiert ist. Der Begriff gerät oft zur reinen Abwehrparole, zu einer Art der Selbstberuhigung, die ein Unbehagen über das riesige Loch heilen soll, das da klafft, wo man den soziologischen Gedanken der »strukturellen Gewalt« politisch weiterspinnen müsste: Wenn die Randale mit den Zumutungen des Kapitalismus zu tun hat, worin liegt dann ihr Beitrag dazu, diese zu überwinden? Wer wirft dort Steine, und wie ließe sich die behauptete »Freiheit« verlängern, die einem Bonmot zufolge in dem Moment beginnt, wenn die Grauwacke die Hand verlässt, und schon wieder zu Ende ist, wenn diese auf dem Polizeiauto eine Beule hinterlässt?
Der Philosoph und Aktivist Thomas Seibert hat die Randale einen »Aufruhr« genannt, eine »Grenzposition des Politischen«, eine Verweigerung der Kommunikation. Das Problem dabei ist in modernen Gesellschaften, dass diese im Wesentlichen in der Kommunikation zu sich selbst finden, also auch den Weg zu ihrer Veränderung. Dazu beitragen könnte ein aktualisiertes Verständnis der »strukturellen Gewalt«, und das kommt derzeit tatsächlich wieder in die Debatte, gänzlich ohne Randale.
Neue Perspektiven der Gewaltforschung
In der Gewaltforschung erfährt der Ansatz von Johan Galtung gerade so etwas wie eine Renaissance. Im Oktober wird sich eine Tagung an der Universität Oldenburg über »den blinden Fleck« beugen, der mit der Verabschiedung von diesem Begriff zumindest in den Wissenschaften einherging. Diese Verabschiedung ist nicht ohne Kritik geblieben, die Debatten darüber aber haben die akademische Gemeinde kaum verlassen.
Hamburg wäre nun ein Anlass, das zu ändern - die Randale in der Schanze könnten dabei auch jenen symbolischen Kontext freilegen, in dem und durch den überhaupt definiert wird, was schlechte und was gute Gewalt ist. Die aktuelle Ausgabe von »Mittelweg 36«, der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, befasst sich mit neuen Perspektiven der Gewaltforschung. Mit der Randale von Hamburg hat das zunächst nicht viel zu tun, eher mit wissenschaftlicher Selbstbefragung an einem möglichen Wendepunkt.
Alte Debatte zwischen »Innovatoren« und »Mainstreamern«
Seit den 1990er Jahren läuft in der Gewaltforschung eine Debatte zwischen den »Innovatoren« und den »Mainstreamern«, wobei Letztere einen Schwerpunkt auf das »Wie« der Gewalt legen. Es hat dafür gute Gründe gegeben, doch was als eine Weiterentwicklung begann, wurde zu einer Engerführung des Gegenstands. Damit trat das »Warum« in den Hintergrund. Einflussreiche Arbeiten, etwa die des Historikers Jörg Baberowski über »Gewalträume«, werden inzwischen mit skeptischen Fragen über die Reichweite der dabei in Stellung gebrachten Begriffe, der Genauigkeit der Kategorien neu diskutiert. Dass es in diesem Forschungszweig oft und vor allem um die Menschheitsverbrechen der Nazis und die Blutspur des Stalinismus geht, ist richtig. Genauso aber hat sich die Gewaltforschung mit Eruptionen in Vorstädten, mit dem Zusammenhang von Ausgrenzungserfahrung und Gewaltbereitschaft befasst.
Dass solche Randale oft eine »autotelische Gewalt« ist, wie es von Jan Philipp Reemtsma schon vor knapp zehn Jahren formuliert wurde, eine, die keinem außerhalb der Gewalthandlung liegenden Zweck dient, die also um ihrer selbst Willen geschieht, ist so richtig, wie damit die Frage nicht überflüssig geworden ist, warum sie angewandt wird.
Warum wird auf Warum-Fragen verzichtet?
Wolfgang Knöbel, als Direktor des Hamburger Instituts Nachfolger von Reemtsma, sieht mit Blick darauf »den wissenschaftstheoretisch zentralen Kulminationspunkt« der Debatte in der Frage: »Warum sind mittlerweile etliche Sozialwissenschaftler bereit, auf Warum-Fragen zu verzichten?« Womit wieder Johan Galtung ins Spiel kommt und mit ihm sein Begriff der »strukturellen Gewalt«.
Der ist sozusagen das Gegenstück zur »physischen Gewalt« und stellt auf die gewaltförmige Verfasstheit der Weltgesellschaft ab, auf einen Begriff also, der »keinen Täter, jedoch einen Dauerzustand von Gewalt« kennt, wobei diese »auf irgendeine Weise in die soziale Struktur eingebaut sein« müsse, wie es der norwegische Konfliktforscher seinerzeit formulierte. Ein Begriff von »Frieden«, der sich auf die Abwesenheit von Gewalt beschränke, erschien ihm nicht ausreichend.
Mehr noch, und das spielt auch in der Debatte um die Randale von Hamburg eine Rolle, wird Gewalt bei Galtung, darauf macht in »Mittelweg 36« der Soziologe Peter Imbusch aufmerksam, »zur Ursache für den Unterschied zwischen dem normativ wünschenswerten Potenziellen und dem Aktuellen, zwischen dem, was ist, und dem, was hätte sein können«. Es ist eine Gewalt, die andere gesellschaftliche Möglichkeiten verhindert. Der Begriff macht die Ursache für diese Differenz - ungleiche Verteilung von Macht, Ressourcen - zum Teil der Debatte auch über physische Gewalt, die von sich behauptet, sie wolle diese Differenz überwinden. Dass es gerade daran der »linken Militanz« fehlt, an der überzeugenden Option für »das Andere«, ist freilich auch wahr.
Die Rolle der Wissenschaft in der politischen Debatte
Schon in der Vergangenheit haben Galtungs Konzept und alle, die es für sich gebrauchten, immer wieder harsche Kritik hervorgerufen - der Begriff der »strukturellen Gewalt« gerate zum »politisch-demagogischen Etikett zur umfassenden Denunziation der herrschenden Verhältnisse« (Egbert Jahn), sei also nicht viel mehr als der Versuch, »die Revolte der Empörten und Entrechteten zu legitimieren« (Jörg Baberowski).
Aber ist das ein in jeder Hinsicht wissenschaftlicher Einwand? Oder nicht längst ein politischer? Der Marburger Soziologe Markus Schroer hat schon früher darauf hingewiesen, dass der Begriff der »strukturellen Gewalt«, dessen Leerstellen und Probleme nicht bezweifelt werden, auch deshalb als nicht mehr anschlussfähig in der Wissenschaft angesehen wurde, »weil viele der in ihn eingelassenen politisch-moralischen Konnotationen nicht mehr in die Landschaft einer Soziologie passen, die tief verunsichert ist - verunsichert über ihre normativen Maßstäbe, über den Stellenwert soziologischer Gesellschaftskritik, über die Möglichkeit von Utopien«.
Der Punkt ist deshalb wichtig, weil er auf das Selbstverständnis von Wissenschaft eingeht, die gern im politischen Diskurs zur Autorität erklärt wird, ohne auf ihre eigenen Begründungen überhaupt einzugehen. Dass in der Debatte nach Hamburg eine banalisierte Spielart der wissenschaftlich erledigten Totalitarismustheorie zur Hauptreferenz der meisten Sprecher auf der politisch-medialen Bühne werden konnte, zeigt die Dimension des Problems.
Ein Steinwurf ist noch keine andere Gesellschaft
Wenn nun also über eine Renaissance des Begriffs der »strukturellen Gewalt« gesprochen wird, dann ist das auch und zugleich ein Auftrag, von links nicht ebenso in Banalisierungen und Vereinfachungen zu verfallen. Der bloße Rekurs auf den Begriff »strukturelle Gewalt« allein bleibt leer, wenig überzeugend. Was oft fehlt, ist die Analyse und eine aus ihr hervorgehende Überlegung, wie zu ändern ist, was zu ändern drängt.
»Ob man das nun strukturelle Gewalt nennt oder nicht«, so hat es Jürgen Habermas in der Debatte um Galtungs Ansatz schon zu Beginn der 1990er Jahre formuliert, »nur aus den Reproduktionsbedingungen unseres Gesellschaftssystems im Ganzen« lassen sich die »entstellten Lebenszusammenhänge, die immer neue Gewalt gebären, erklären«.
Eben um dieses Erklären des »offenkundigen Zusammenhangs zwischen Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt« müsste es einer kritischen Wissenschaft und Politik gehen. Das ist mit Empörung über Polizeigewalt oder dem bloßen Hinweis auf die Gewaltförmigkeit kapitalistischer Verhältnisse nicht getan. Die in ihr liegenden Potenziale der Veränderung und Zivilisierung gehören mit auf den Tisch. Und die Debatte muss neu zeigen, wie über sie hinausgegangen werden könnte. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft ist kein neutraler Ordnungsentwurf, schreibt Imbusch völlig zu Recht im »Mittelweg 36«. Aber ein Steinwurf ist noch keine andere Gesellschaft.
Antun und erleiden. Über Gewalt. Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 3/2017. Mehr Informationen gibt es online hier.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.