Verrat! Verrat!
Wenn politische Form und politische Substanz nicht mehr zusammenpassen: Über den Fall der niedersächsischen Ex-Grünen Elke Twesten - und zum verräterischen Echo darauf
Es ist jetzt also von Verrat die Rede. Viel weiter nach oben lässt sich die rhetorische Eskalationslatte nicht legen. Verrat, das ist ein besonders krasser Vertrauensbruch. Es liegt ein Vorwurf in diesem Wort, der besondere Strafrechtsparagrafen anklingen lässt: Hochverrat!
In Zeiten einer sehr disziplinierten Demokratie, in der es ein Aufreger ist, wenn Abgeordnete nach ihrem Gewissen abstimmen, also sich so verhalten, wie die Verfassung es gebietet, in diesen Zeiten ist Verrat die letzte rote Linie, die man überschreiten kann. Wer als Verräter markiert ist, dem wird man künftig kaum noch Vertrauen schenken wollen. Die nun den Vorwurf des Verrats erheben, wollen wohl auch genau das erreichen: den Ausschluss der Beschuldigten aus der Gemeinde der Loyalität. Die Frage ist: Wer ist da eigentlich gemeint?
Elke Twesten gehörte bisher nicht zu den bundesweit bekannten Politikerinnen. Niedersachsen, Landtag, Bildungsfragen, Grüne - das sind nicht unbedingt die Zutaten für eine Karriere in der ersten Talkshowreihe. Das ist keine Kritik, aber es ist wichtig, das anzumerken, denn wovon hier die Rede ist - vom Wechsel aus der einen politischen Formation in eine andere -, das ist meist eine Angelegenheit der hinteren Reihen. Wer ganz vorn steht, wechselt nur selten. Darin liegt schon die erste Verunsicherung - wer kein Vertrauen mehr in Parteien, in parlamentarisches Handeln hat, der hat Erfahrungen gemacht, die mit den politischen Gesichtern der ersten Reihe verknüpft sind. Nicht mit den Hinterbänklern.
Wenn nun die Ex-Grüne Elke Twesten in die Rolle der Verräterin verwiesen wird, dann nicht zuletzt durch solche Politiker, die dadurch für ein paar Tage von ihrem eigenen Glaubwürdigkeitsproblem ablenken können. All die gebrochenen Wahlversprechen, all die unlauteren Praktiken, die Abhängigkeiten - all das gerät nun für kurze Zeit in den Schatten einer Personalie, die man sich genau anschauen muss, um zu verstehen, warum die Erregung jetzt so groß ist. Warum man sich so große Mühe gibt, erregt zu sein.
Es waren Sozialdemokraten, welche sofort die Führung der laut durch Medien und Internet lärmenden Kompanie übernommen haben - in ihren Reihen wurde der Verratsvorwurf zuerst erhoben. Der soll weniger die Ex-Grüne Twesten treffen als vielmehr die CDU, die nun wohl glaubt, vom angestrebten Wechsel in ihre Fraktion profitieren zu können. Was keineswegs sicher ist. Es wird vorgezogene Wahlen geben, an Frau Twesten wird man sich dann kaum noch erinnern, vielleicht aber daran, dass irgendwer irgendwann im Sommer »Intrigenspiel« und »Stimmenkauf« gesagt hat. Das könnte an der CDU kleben bleiben.
Die SPD hat also ein wahlkampfgetriebenes Motiv, bei dem die Ex-Grüne Twesten praktisch nur eine Spielfigur ist, die zwar andere auf dem Schachbrett der Landespolitik hin und her geschoben haben, die nun aber als Springerin in ungünstiger Lage zum eigenen König steht. Wer nicht gerade Spezialist der niedersächsischen Landespolitik ist, könnte kaum sagen, ob im Vorwurf des Verrats nicht auch irgendeine Enttäuschung liegt, die wirklich mit rot-grüner Politik zu tun hat. Wahrscheinlich ist da gar nichts dergleichen.
Elke Twesten war nicht wieder von den Grünen für die regulär im Januar anstehende Wahl nominiert worden. »Die Partei hat mir das Vertrauen entzogen«, hat sie am Tag danach erklärt. »Wieso sollte ich das Vertrauen noch aufrecht erhalten?« Das ist eine interessante Umkehrung des Verratsvorwurfs, nur etwas milder ausgesprochen: Die Grünen wären es demnach gewesen, die ihre eigene Abgeordnete sozusagen verraten haben. War das so?
Was da genau auf Wahlkreisebene an der Wümme geschehen ist, es dürfte für das nun ablaufende politische Theaterstück nur eine kleine Zutat sein. Für Twesten ist es vielleicht mehr. Der springende Punkt. Der Tropfen, der etwas zum Überlaufen brachte. Muss man das verstehen?
Nun, es liegt darin sowohl ein mögliches Missverständnis davon, was praktizierte Demokratie heißt - dass es nämlich für ein Mandat mehrere Bewerber gibt, so auch für einen Kandidatenplatz. Wenn dann das Wort »Kampfabstimmung« fällt, weiß man, dass auch andere dem Missverständnis aufsitzen, das Twesten zu ihrem Schritt gebracht haben könnte. Wenn es mehr als eine Bewerberin gibt, könnte man von einer Alternative sprechen. Aber von »Kampf«? Und kann man, wenn man so eine Ausscheidung verliert, sich als »verraten« von der eigenen Partei betrachten?
Dass die Grünen, sieht man einmal von ihrem Altlinken Jürgen Trittin ab, eher zurückhaltend reagierten, könnte auf etwas hinweisen, was wiederum mit Verrat zu hat: eine wahrhafte Enttäuschung, ein Gefühl, hintergangen worden zu sein - so klingen die Grünen jetzt. Sie verlieren jemanden, mit dem sie eng zusammengearbeitet haben. Das tut weh. Gerade, wenn es diese Form annimmt. Und darüber hilft auch nicht hinweg, dass hier und da mit fester Stimme gefordert wird, Twesten solle ihr Mandat zurückgeben, um den Wählerwillen nicht zu verfälschen, oder sagen wir es doch so: zu verraten.
Der Ruf nach Mandatsrückgabe ist das Murmeltier, das bei jedem Fraktionswechsel auftaucht. »Wir gehen selbstverständlich davon aus«, so haben es die niedersächsischen Grünen formuliert und damit auch gleich gesagt, dass es ganz selbstverständlich nicht zu dieser Mandatsrückgabe kommen wird. Es ist nicht verboten, so zu handeln wie Elke Twesten. Es mag moralisch fehlerhaft erscheinen, es mag politisch nicht verstanden werden, aber es ist erlaubt. Weil die Abgeordneten ein Maß an Unabhängigkeit brauchen, ohne die Demokratie nicht funktioniert.
Das gilt auch für ihre Unabhängigkeit von Parteien. Oder müsste gelten. Der Fall Twesten wird auch deshalb von solch einer Erregungsmusik begleitet, weil er auf diesen wunden Punkt zeigt: auf die Herrschaft der Parteiapparate über das parlamentarische Geschehen, auf die kaum verfassungskompatible Praxis des Fraktionszwangs, auf die Versenkung der inhaltlichen Auseinandersetzung in der Brühe der parteipolitischen Machtlogik. Elke Twesten hat die Unabhängigkeit als Abgeordnete davon auf ein Extrem getrieben, soweit sogar, dass sie selbst wieder in der Brühe landet, über deren Vorhandensein ihr Wechsel doch zugleich aufklärt.
Apropos Aufklärung: Nach der Wechselankündigung von Elke Twesten haben sich führende Politiker von SPD und CDU mit gegenseitigen Erinnerungen daran beharkt, dass auch schon früher und auch andere Abgeordnete die Seiten wechselten. Und jeder davon bereits einen Vorteil hatte.
In Thüringen ist der frühere AfD-Abgeordnete Oskar Helmerich zur SPD gewechselt. Zuvor war die Sozialdemokratin Marion Rosin zur CDU gegangen. Wegen der knappen Mehrheitsverhältnisse war weder das eine noch das andere eine Nebensache. Und man könnte den Herren Peter Tauber und Ralf Stegner noch weitere Namen zurufen. Viele Namen.
Alles Verrat? Alles Intrige? Wer sich die nicht eben kurze Liste der Parteiwechsler anschaut, wird bald den Wunsch nach einer etwas differenzierteren Betrachtung verspüren. Zunächst einmal würde eine solche Wissenschaft zwischen Fraktionswechsel und Parteiwechsel unterscheiden, weil ersterer für Mehrheiten relevant sein kann, letzterer dies aber nicht notwendigerweise sein muss. Man würde über die Wirkung des Zeitpunkts nachdenken müssen, den Wechsel in der Politik haben können - kurz vor Wahlen oder einfach nur irgendwann?
Und müsste man nicht auch bedenken, dass in Zeiten, in denen politische Form und politische Substanz immer offener auseinanderklaffen, der Wechsel der Partei sogar die Voraussetzung dafür sein kann, politisch bei sich selbst bleiben zu können?
Aus Sicht einer bürgerlichen Grünen wie Twesten, der ohnehin die Kooperation mit der Union näher liegen mag, kann die Unentschiedenheit ihrer bisherigen Partei zwischen sozial-ökologischem Block und schwarz-grüner Machtoption vielleicht irgendwann zu viel sein. Und wie viele linke Grüne werden es in der Partei des Boris Palmer und des Winfried Kretschmann schon länger nur noch mit zusammengebissenen Zähnen aushalten? Die Form (die Partei) zwingt hier zusammen, was schon längst keine gemeinsame Substanz mehr hat (die Inhalte, die Strategie).
Das gilt nicht nur für die Grünen. Nicht eben wenige linke Sozialdemokraten und Grüne sind nach Gerhard Schröders Agenda-Wende und dem Jugoslawien-Krieg in Richtung PDS oder später zur Linkspartei gegangen. Mancher, der sich von diesem Schritt eine politische Heimat versprochen hat, die besser zu ihm passt, ist bereits enttäuscht weitergezogen. Mancher hat erfahren müssen, dass es noch schlimmer zugehen kann als in der Partei, die man erst verlassen musste.
Es gab Politiker, die aus der Weiterentwicklung ihrer politischen Ansichten irgendwann einen organisatorischen Schluss gezogen haben - und die PDS oder die Linkspartei verlassen haben, die zudem den Rummel nicht wollten, eher erdulden mussten, der sie zu »Abweichlern« stempelte. Oder eben: zu Verrätern.
Die rasche Eskalation der Vorwürfe im Fall Twesten liegt also womöglich auch in der DNA einer Parteiendemokratie begründet, die eine wachsende inhaltliche Unterschiedslosigkeit zwischen Parteien mit umso lauterem Krakeel gegen die Konkurrenz übertönen muss, sofern sich irgendein ein Anlass dazu bietet.
Man könnte sich die Frage stellen, ob bei Elke Twesten zwar die Karriereabsicherung den Ausschlag gab, der Grund für die Wechselbereitschaft aber tiefer liegt: darin nämlich, dass sich nicht einmal CDU und Grüne mehr groß unterscheiden.
Deshalb muss man nicht gleich die alten Gräben zurückwünschen, die zwischen Weltanschauungsparteien klafften. Aber der Verrat, der jetzt hier wegen des anstehenden Fraktionswechsels von Twesten beklagt wird, der ist vielleicht, wenn man schon solche Begriffe nutzen will, ein viel allgemeinerer: der an der Demokratie, in der es wirklich Alternativen gibt.
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