Revolutionäre im Heiligen Land
Lutz Fiedler verfasste ein Buch über die Geschichte der Neuen Linken in Israel. Von Wladek Flakin
Hal’a HaKibbush! Unter der Parole «Nieder mit der Besatzung!» marschierten am 1. Mai 1969 junge Menschen mit roten Fahnen von Jaffa nach Tel Aviv. Sie forderten den Abzug der israelischen Armee aus Ostjerusalem, dem Golan, der Westbank, dem Gazastreifen und der Sinai-Halbinsel - Gebiete, die zwei Jahre zuvor im Sechstagekrieg erobert worden sind. Auf der prächtigen Dizengoffstraße in Tel Aviv trafen sie auf einen anderen, ebenfalls mit roten Fahnen bestückten Demonstrationszug. Nach wenigen Sekunden kam es zu Tumulten. Die Fahnenstangen wurden zu Knüppeln.
Diese Szene verdeutlicht den tiefen Graben zwischen der «alten» und «neuen» Linken in Israel: auf der einen Seite die Anhänger der moskautreuen israelischen KP, die den Krieg unterstützt und sich soeben auf ihrer Kundgebung zum 1. Mai beim israelischen Militär bedankt haben, auf der anderen Seite die Israelische Sozialistische Organisation, besser bekannt unter dem Namen ihrer Zeitung «Matzpen» (Kompass), die jegliche Besatzung ablehnte. Letztere hatte am 22. September 1967 eine Erklärung in der Tageszeitung «Haa-retz» veröffentlicht: «Besatzung führt zur Fremdherrschaft. Fremdherrschaft führt zu Widerstand. Widerstand führt zu Unterdrückung. Unterdrückung führt zu Terror und Gegenterror.» Und weiter hieß es darin: «Das Behalten der besetzten Gebiete wird uns in ein Volk von Mördern und Ermordeten verwandeln.» Heute, bald ein Jahrhundert danach, klingen diese Worte wie eine Prophezeiung. Die anhaltende Besatzung führt zu immer größerem Leid beiderseits. Israels Regierungspolitik wird von religiösen und nationalistischen Fanatikern bestimmt. Gerade deshalb darf die Tradition der antizionistischen Linken, die für ein anderes Israel kämpften, nicht in Vergessenheit geraten.
«Matzpen» wurde 1962 von ausgeschlossenen KP-Mitgliedern gegründet. Zu ihnen gehörte der Schriftsteller Akiva Orr, der als Karl Sebastian Sonnenberg in Berlin geboren wurde und 1934 mit seinen Eltern Deutschland verließ. Er wurde aus der KP ausgeschlossen, weil er eine konsequente Aufarbeitung des Stalinismus forderte. «Matzpen» gewann rasch Mitglieder, darunter Jakob Taut, einen seit den 1930er Jahren in Palästina aktiven Trotzkisten, sowie Jabra Nicola, einen palästinensischen Intellektuellen, der die Klassiker des Marxismus ins Arabische übersetzte. Die «Matzpen»-Gründer wollten ein Land, in dem Juden und Araber gleichberechtigt zusammenleben. Sie zeigten bedingungslose Solidarität mit dem Widerstand der Palästinenser, verlangten aber zugleich auch von jenen die Anerkennung der Rechte jüdischer Menschen in der Region. Ihr Ziel war ein binationaler sozialistischer Staat im Rahmen einer sozialistischen Union im Nahen Osten. «Matzpen» stützte sich maßgeblich auf radikale Studenten und unterhielt regen Austausch mit der Neuen Linken in England, Frankreich und Deutschland.
«Trotzkistisch» war «Matzpen» im strengen Sinn nie, obwohl sie zeitweilig eine Sektion der Vierten Internationale war. Die Organisation spaltete sich mehrfach. Die heutige NGO Alternative Information Center stammt indirekt von «Matzpen» ab.
Lutz Fiedler präsentiert das linksradikale Projekt als notwendiges Glied bei der Entstehung der israelischen Nation. Tatsächlich war «Matzpen eine internationalistische, antizionistische und antikapitalistische Organisation, die Traditionen jüdischer Revolutionäre vor dem Zweiten Weltkrieg fortsetzte und explizit für die Weltrevolution kämpfte. Für Fiedler ist das allerdings leider bestenfalls ein Anachronismus, denn mit dem Holocaust hätte man »das Scheitern der einstigen universalistischen Zukunftshoffnung« einsehen müssen.
Lutz Fiedler: Matzpen. Eine andere israelische Geschichte. Vandenhoeck & Ruprecht. 408 S., geb., 70 €.
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