Der Fluch der Waffen
Andreas Pehnke veröffentlichte das pazifistische Vermächtnis des Hamburger Friedenspädagogen Wilhelm Lamszus
Als »schlechter Deutscher«, und »vaterlandsloser Geselle« wurde er seinerzeit denunziert und diffamiert - nur weil er für den Frieden stritt. Der Hamburger Reformpädagoge Wilhelm Lamszus erregte mit seinem 1912 erschienenen Roman »Das Menschenschlachthaus - Bilder vom kommenden Krieg« weltweit Aufsehen und Aufmerksamkeit. Seine schonungslos schockierende Prophezeiung, dass ein künftiger, sich bereits ankündigender Waffengang eine bis dahin ungeahnte, ungeheuerliche Zerstörungs- und Vernichtungskraft entwickeln, Völkerscharen dahinraffen würde ob der gewaltigen Waffenarsenale und hoch entwickelten Waffentechnologie, passte den Kriegstreibern aller Länder freilich nicht. Seine Vision wurde furchtbare Realität - im Ersten und im noch verheerenderen Zweiten Weltkrieg.
Sein Antikriegsroman, der Bertha von Suttners eindringlichen Appell »Die Waffen nieder!« bestärkte, wurde dankenswerterweise vor zwei Jahren vom Bremer Donat Verlag neu herausgegeben. Dem folgte nun eine beeindruckende, voluminöse Werkausgabe, großartig zusammengestellt vom Erziehungswissenschaftler Andreas Pehnke und herausgegeben vom Sax Verlag, einem vor 25 Jahren im sächsischen Markkleeberg gegründeten Editionshaus.
Die Publikation präsentiert den Prolog zum »Menschenschlachthaus« mit leider noch immer aktuellen Fragen und Mahnungen an die Menschheit: »Wisst ihr, was eine Million Leichen unseres Geschlechts bedeutet? - Verhüllt nicht schamhaft euer Haupt! (...) Da liegen sie! - Wer wagt es, sie zu zählen? Zu wägen tausend Tonnen von Menschenfleisch? Zu filtern tausend Hektoliter frischen Menschenbluts - und doch aus ungestilltem Mund zu singen von der Herrlichkeit des Krieges, des großen, heiligen, gottgewollten Krieges, des großen, dem Zucht- und Lehrmeister (...) So lasst uns heben an: Wir haben ihn geschaut, nackt und würdelos. Denn wir lagen selbst, aus offenem Halse röchelnd, an der Erde und sind im eigenen Blut erstickt und sind mit hunderttausend armen Brüdern verscharrt in fremder Erde.« Lamszus, der selbst noch an die Front ziehen musste, riss dem von vielen vor dem großen Schlachten ahnungslos angebeteten Kriegsgott Mars die Maske vom Gesicht.
Die Fortsetzung vom »Menschenschlachthaus« war 1914 druckfertig, konnte jedoch erst nach dem Krieg, der düsterste Ahnungen überbot, erscheinen. Für den zweiten Band mit dem gleichfalls bezeichnenden Titel »Das Irrenhaus« schrieb Carl von Ossietzky das Vorwort. Der spätere Friedensnobelpreisträger warnte: »Noch ist der alte Erzfeind aller Kultur und Menschenglücks nicht erledigt. Vollgesoffen mit rotem Menschenblut zog sich der Drache in die Höhle zurück. Auf wie lange? (...) Noch sind genügend Hände bereit, neue Brandfackeln zu schleudern. Nichts, was zum Krieg geführt hat, ist durch den Krieg wirklich abgetan. Was wollen da die paar gestürzten Kronenträger besagen, die armen Marionetten? Noch liegt die ganze Arbeit vor uns.«
Die Idee zum »Menschenschlachthaus« kam dem 1881 in Altona geborenen Sohn eines Schuhmachers bei einer Reserveübung. Lamszus hatte erschreckt beobachtet: »Man ließ ein Maschinengewehr schnurren, und schon spritzte es Kugeln, dichter, als der Regen fällt!« Innerhalb von wenigen Tagen verfasste der damals 31-Jährige seinen berühmten Roman, der weltweit über 80 Auflagen erfuhr. - Gewiss, der bis zum Ersten Weltkrieg der SPD nahestehende und 1919 in die KPD eintretende Pazifist war nicht der Erste, der die Schrecken des »Zukunftskrieges« beschrieb. Pehnke erinnert im Vorwort an ein sechsbändiges Werk des Bankiers und Industriellen Johann von Bloch, Eisenbahnpionier in Polen und Russland. Dessen Beschreibung der ausufernden Dimensionen kommender Kriege habe Zar Nikolaus II. bewogen, die internationalen Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 einzuberufen. Sodann hatte auch der französische Psychologe und Pazifist Charles Richet in »Die Vergangenheit des Krieges und die Zukunft des Friedens« (1909) prophezeit: »So bluttriefend die früheren Kriege auch gewesen sein mögen, sie waren bloß Kinder gegen die Kriege der Zukunft.« Und vier Jahre vor dem Ersten Weltkrieg kam »The Great Illusion« des britischen Schriftstellers Norman Angell auf den Buchmarkt, ein Bestseller, der innerhalb eines Jahres in 15 Sprachen übersetzt wurde und in der deutschen Fassung »Die falsche Rechnung« hieß. Angells vielleicht gutgemeinter, aber etwas hilfsloser Appell lautete: Ein effektiver Pazifismus muss den Krieg vor allem als Mangel an Vernunft betrachten.
Ähnlich Ossietzky erkannte auch Lamszus, dass mit der Kriegsniederlage Deutschlands 1918 und dem Sturz der Monarchien die Gefahr eines neuen Krieges nicht gebannt war. Und so schrieb er weiterhin stetig gegen den Krieg an, wozu sein Gedichtband »Der Leichenhügel« sowie die von ihm mit herausgegebene Schrift »Fluch der Waffen« gehörten. Herausgeber Pehnke merkt an: »Im Reich gehörten etwa 70 000 Menschen pazifistischen Organisationen an. Das waren viel mehr im Vergleich zu den 10 000 Mitgliedern vor 1914, aber verschwindend wenige gegenüber den Millionen, die in nationalistischen Verbänden (wie dem Stahlhelm) organisiert waren. Es gab ca. 500 Bücher, die wie Erich Maria Remarques Welterfolg («Im Westen nichts Neues») den Krieg in seinem ganzen grauenhaften Wahn schilderten, aber viele Tausend, die ihn mehr oder weniger heroisch verklärten.«
Nach dem Machtantritt Hitlers wurde Lamszus als einer der ersten Lehrer in Hamburg entlassen. Die zwölf finsteren faschistischen Jahre »überwinterte« er schreibend, wobei er einige journalistische Texte unter Pseudonym veröffentlichen konnte. Nach der Befreiung kehrte er nicht mehr in den Schuldienst zurück, publizierte weiter fleißig und engagierte sich in der Deutschen Friedensgesellschaft. Als erster deutschsprachiger Autor, so Pehnke, verarbeitete Lamszus 1946 in »Der Forscher und der Tod« die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Die Prosa fand Aufnahme in dem noch im selben Jahr vom Hamburger Kulturverlag der deutschen Öffentlichkeit präsentierten Publikation »Der große Totentanz - Gesichte und Gedichte«, in der sich Lamszus mit dem deutschen Faschismus auseinandersetzte. 1960, fünf Jahre vor seinem Tod, verlieh die Pädagogische Fakultät der Berliner Humboldt-Universität dem Hamburger Friedenspädagogen die Ehrendoktorwürde (obwohl dieser 1927 die KPD verlassen hatte!).
Auch eine Werkausgabe kann freilich nie vollständig sein. In diesem Fall kam erschwerend hinzu, dass nur ein Bruchteil von Lamszus’ Gedichten, Dramen und Artikeln überliefert ist, darunter glücklicherweise »Thomas Müntzer - Eine Tragödie des Prophetentums«, 1909 im Verlag Neues Leben erschienen, und seine autobiografischen Skizzen, beide in dieser Werkausgabe ebenfalls zu finden. Eine verdienstvolle Edition, eine klug bestückte Schatztruhe, aus der sich reichhaltige Argumente wider die neuen Kriege bergen lassen.
Andreas Pehnke (Hg.): Wilhelm Lamszus (1881-1965). Die literarische Werkausgabe des Hamburger Friedenspädagogen. Sax-Verlag. 748 S., geb., zahlr. Abb., 45,80 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.