Der Spinner

Auf einem einstigen Rittergut am vorpommerschen Bodden hat sich der Hamburger Jörg Czycholl einen Traum erfüllt.

  • Christel Sperlich
  • Lesedauer: 7 Min.

Geheimnisumwoben knarren die brüchigen, doch wurzelfesten Stämme der alten Weiden. Ihre herabhängenden Zweige bewegen sich wie in einem wilden Tanz. Die Regentropfenperlen am Hagebuttenstrauch zittern. Unbändig peitscht der Wind durch filigrane Gräser, Binsen und Schilf am Ufer des vorpommerschen Boddens. Die Wellen kräuseln vor sich hin. Auf dem alten Rittergut Lebbin schaut Jörg Czycholl nach dem Rechten, fährt mit seinem Land Rover das anderthalb Hektar großes Gelände auf Rügen ab. Über Hügel, vorbei an den Obstplantagen, an Waldstücken und Feldern. Stapft durch morastige Wildschweinsuhlen, entdeckt Dachsbaugänge und heimisches Geäst der Fischotter. Mit dem Fernrohr beobachtet er Rehkitze, Graugänse, Singschwäne, Kormorane, Reiher, Kraniche, Wanderfalken und freut sich wie ein Junge über die kleinen Laubfrösche auf den Wiesen. Der einstige Unternehmer weiß, wann welche Vögel kommen und gehen, wie viele Nester sie bauen, was sie fressen. »Das konnte ich mir anlesen. Am meisten aber habe ich von den Einheimischen, den Bauern, Fischern und Jägern gelernt.«

Das ehemalige Rittergut hat er naturbelassen vor zwölf Jahren zu einer Hotelanlage umgebaut. Das Gut liegt im nördlichsten Teil der Lebbiner Halbinsel und ist umgeben von den großen Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft im Westen und Jasmund im Osten. Vor nur etwas über 100 Jahren war Lebbin eine Insel. Erst durch die Verschüttung der alten Furt bei Moor wurde Lebbin an das Muttland angeschlossen und ist seitdem eine Halbinsel mit elf kleinen Ortschaften. Unberührte Natur, mit Wäldern, Schilfgürteln und natürlichen Buchten, landwirtschaftlich geprägten Flächen, einzigartiger Pflanzen- und Tierwelt und fischreichem Wasser des Boddens. Der Name der Halbinsel Lebbin soll vom altslawischen Wort lêpŭ herstammen und meint: »die Schöne«. Kein Wunder, dass Jörg Czycholl sich in dieses Stück Land sofort verliebt und es gekauft hat.

Als Verwalter des Gutes hat er den hier ansässigen Torsten Kuba auserkoren. Der muskulöse Mann in den Fünfzigern schmeißt die Mähmaschine an, prüft den Benzintank, damit sein Chef, den er eher als Freund bezeichnet, am nächsten Tag die Wiesen mähen kann. Torsten Kuba ist zuständig für das Büro und alles Technische. Facility Management heißt das heute neudeutsch, fügt er ironisch hinzu. »Ich frage mich manchmal, war es Zufall oder ist mir der Job zugefallen, schließlich arbeitete hier schon mein Großvater als Kutscherknecht. Aus seinen Erzählungen erfuhr ich viel über das Lebbiner Gut. Mit meinem Opa war ich sehr verbunden. Es gibt Tage, an denen ich über das Land schaue und mir das Wasser in die Augen steigt.«

Über 700 Jahre hat das Gut schon auf dem Buckel. Erstmals urkundlich erwähnt wurde es 1314, kam in unterschiedliche Hände, überstand Brände und Verfall. 1905 übernahm die Gutsfamilie Kroos das Rittergut, das bis zur Enteignung während der Bodenreform in ihrem Besitz blieb. Nach 1945 fanden hier Hunderte Flüchtlinge ein Dach über dem Kopf. Später gehörte es dem VEG, dem Volkseigenen Gut. In den 1980er Jahren wurde das Herrenhaus abgerissen.

Als 2005 Jörg Czycholl das Gut übernahm, war Torsten Kuba anfangs skeptisch. »Da kommt schon wieder so ein Spinner aus dem Westen, dachte ich. Dann aber ging’s ans Aufräumen. Zwei Monate lang fuhren wir mit Bagger und Schredder durch Schutt und Trümmer.«

In den ersten Jahren der Bauphase pendelte Jörg Czycholl noch zwischen Hamburg und Rügen. Die Fahrten zurück in die Stadt zog er lange hinaus, konnte sich nie so richtig trennen. Jetzt ist Lebbin sein Anker. Sein Zuhause. Sein Leben.

»Ich möchte Lebbin nachhaltig und naturverträglich nutzen, der wilden Tier- und Pflanzenwelt wertvolle Lebensräume und Rückzugsgebiete erschließen und erhalten.« Dabei will er unabhängig bleiben und das, was die Natur anbietet, nutzen. Ob eigenes Fleisch, Fisch oder die saftigen Birnen, Mirabellen, Zwetschgen und Äpfel der alten Obstbäume, die Walnüsse oder Wildkräuter. Schon morgens sammelt der Naturfreund Malvenblätter, Spitzwegerich, Giersch und Brennnessel, die Königin des wilden Krautes. Braut sich mit ihren Blättern und Samen seinen täglichen Energieschub. Wenn er aus seinem Wohnwagen aussteige, von den Angestellten spöttisch »Villa Boddenblick« genannt, spüre er hautnah, das er noch lebe, sagt er begeistert. »Tür auf. Einatmen. Der erste Blick aufs Wasser. Hurra, ich bin da. Du kannst auf die Wellen schauen und wirst ruhig, ganz demütig. Das gibt Kraft für den ganzen Tag.«

Der Lebensraum der Halbinsel wirkt wie eine verzauberte Märchenwelt. Und immer wieder anders, schon in der Frühe, wenn leichter Tau die Wiesen benetzt oder die See wie Seide anmutet. »Auf Lebbin ticken die Uhren anders«, behauptet Jörg Czycholl, der in der Energiebranche und später im Medienbereich tätig war. Lebbin habe ihm das Leben gerettet. »Ich war beruflich ständig unterwegs. Mit dem Flieger von einem Kontinent zum anderen. Ständiger Klimawechsel. Ein Hotel exklusiver als das andere. Doch permanenter Druck, Überforderung. Die täglichen E-Mails überfluteten mich. Ich kam nicht mehr zum Schlafen, mutete meinem Körper alles zu, bis ich nicht mehr konnte und an meine Grenze kam.«

Jörg Czycholl setzte alles auf eine Karte, verkaufte seine Firma, wollte frei sein. Steckte sein ganzes Vermögen in das alte Gut. »Es war eine Mischung aus Größenwahn und Echtheit. Hier in Lebbin habe ich Dinge erlebt, an die ich schon gar nicht mehr glaubte. Dabei verlor ich all meine Ängste und fand zurück zu mir selbst.« Lebbin sei für ihn ein Ort außerhalb der Zeit. »Und unberührte Natur, die berührt, die so sein darf, wie sie ist. Das ist das Geheimnis, die Magie von Lebbin.«

Heute genießt der Unternehmer die Einsamkeit genauso wie Gemeinschaft. Für die Lebbiner ist »Junker Jörg«, wie er hier genannt wird, vielleicht immer noch ein Spinner. Das lässt er gern gelten. Denn die Ideen gehen ihm nicht aus.

Seine Philosophie: Auf der einen Seite pures einfaches Sein. Auf der anderen Seite extremer Luxus. Der Mann aus dem Westen wollte etwas schaffen, das nicht einfach zerstört werden kann, und keine Ruinen hinterlassen.

Weitestgehend hielt er sich an die alten baulichen Vorlagen. »Wie schon unsere Vorfahren haben wir nach alter Technik jeden einzelnen Stein mit Fugen gemauert. Ohne chemische Kleber. Zu den Grundstoffen gehörten Sand, Ton, Wasser, Holz und Eisen.« Die weiträumige Gemeinschaftsscheune tragen dicke Wände. Schwere Douglasien-Holzbohlen aus der Eifel, fast 20-fach überdimensioniert, lassen die Scheune wie eine Trutzburg erscheinen. »Sie soll Schutzraum sein. Dieses Land ist so empfindlich und filigran, dass es diese Behaglichkeit verdient.«

Auch im Gästehaus protzen dicke Mauern aus Ziegelsteinen, die Wände mit Kalk-Gips verputzt, das Reetdach aus dem Schilf der Region. Die Gebäude sind einem historischen Hof nachempfunden. Die Innenausstattung rustikal, ländlich. Historischer und moderner Muschelkalkstein auf dem fußbodenbeheizten Boden. Vorhänge aus derbem Leinen. Küche, Regale, Schränke, Betten, alles handgefertigt. An den Wänden schöne Dinge. In der Schrankwand Bildbände über Gärten, Rosen, Coco Chanel und natürlich über Rügen.

Durch großzügige Fenster öffnet sich der Blick nach draußen, auf den Boddensee. Ringsum Abgeschiedenheit und Stille. Zugleich stürmische Winde und rauschende Wellen. Jörg Czycholl hat oft nachgedacht, was ihn eigentlich antreibt, ob er sich ein Denkmal schaffen will. »Vielleicht liegt die Antwort in dem, was man Wurzeln nennt. Vorfahren. Das Leben meines Großvaters, die Flucht meines Vaters, der Verlust der Heimat in Ostpreußen. Alles was die Eltern zurücklassen mussten, ihre Ängste und Nöte, haben mich geprägt. Ich wurde geboren mit einer nicht begründbaren Sehnsucht nach Land, Wasser, nach einem Boden unter den Füßen. Einem Halt, der mir ein Zuhause gibt. Dieser Suche bin ich gefolgt. Der Sehnsucht nach einem Platz, den ich mit Menschen teilen kann, nach einem Anhalten und Bleiben.« Auf dem Gut neigt sich der Tag. Der unendliche Himmel legt sein schönstes, rotgelbes Abendlicht sanft über die Felder. Es scheint, als halte er seine schützenden Arme über das Gut Lebbin.

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