- Kultur
- Theater
Zukunft ohne Scherzartikel
Herbert Fritsch inszenierte »Zeppelin« an der Schaubühne Berlin
Der Verrat ist der Zwilling der Treue; Kassiber sind die kleinen Brüder des Aufrufs; gern trägt der Freund die Maske des Feindes. Der Verräter ist Herbert Fritsch, sein Spiel ist Kassiber, er schmuggelt Feindware. Wie bitte? Ja, er kam aus Castorfs abgewickelter Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz an die Schaubühne am Lehniner Platz - und aufgewickelt wird dort nun ausgerechnet Chris Dercons Philosophie. Wie bitte? Ja, denn der neue Volksbühnenchef verkündete auf Facebook sein Programm: »Sich ins Detail versenken. Das Gesamte vom kleinsten Teil denken. Lauschen. Flüstern. Klein werden. Raus aus dem Totalzusammenhang. Kommt zusammen!«
Nun, man muss fast schon Zyniker sein, um von Fritsch auf Dercon zu kommen, aber dessen Credo ist ungerechterweise gerupft worden. Leute können einen nämlich nerven, wenn sie ständig nur aus dem Gesamtzusammenhang kommen wie aus der Tür eines Großgrundbesitzes. Die Durchblickschnösel. Die Großkreisschläger. Die Allwetterfrager: Wollt ihr den totalen Zusammenhang? - und schon erklären sie dir die Welt. Immer gleich das Ganze sehen, das Große erfassen, die Gesellschaft erkennen, deren vermeintliches Gesetz. Wie Seilschaften hängen sie an ihrem Zusammen-Hang, wollen nicht ins Rutschen kommen. Nein, nein, endlich wieder klein werden! Ja, endlich mal raus aus diesem Elend, dem Totalzusammenhang! Kommt einfach nur zusammen! Vielleicht liegt in Aufkündigungen mitunter mehr Wahrheit als in bewährter Solidität.
Und genau das tun die Grotesk-Gestalten, die Gummikörper, die Gaudi-Gnome von Herbert Fritsch. Kleinteilmenschen. Welche von uns. Nur spielerischer. Und vielleicht waren sie noch nie so traurig, so verschüchtert, so aufgerieben, so kantenscharf verunsichert wie jetzt bei ihrem Schaubühnenstart. Wer auf Pointen zum Prusten wartet, wird enttäuscht werden und hat damit schon viel erfühlt vom Missverständnis, mit dem wir oft genug dem Leben und der Kunst begegnen. Herbert Fritsch inszenierte »Zeppelin«, wieder im eigenen Bühnenbild (Kostüme: Victoria Behr). Was sich abspielt, ist Grüppchenfindung und Grüppchensprengung, ist Stehen, Schleichen, Schauen, ist Biegsamkeit und Liegelust.
Ein Abend aus Stück-Sätzen von Ödön von Horváth. Das ist er, der große Zusammenhang, den diese acht schrillbunten Theatertubbies aber verlassen haben. Denn ihre Sätze sind, was sie selber sind: vom Kosmos abgeklirrte Splitter, die nicht wissen, ob sie vielleicht wieder zurückwollen, die kurz anprallen und dann abgestoßen, in Strudel versetzt werden. »Denken tut weh!«. Oder: »Jeder Epoche die Epidemie, die sie verdient«. Oder: »Man denkt immer, dass man wichtig ist, und das ist meiner Meinung nach falsch.«
Das Existieren und Exaltieren, das Manövrieren und Malträtieren, das Frieren und Frozzeln als wunderlicher Sprung um die eigene Achse. Sätze, die fallen, wie Menschen das Fallen lernen, weil man sie immer wieder aus besagten Zusammenhängen wirft. Auf sie selbst zurück. Das tut weh, aber es öffnet den Blick für die Wahrheit der Welt. Wahrheit ist Freiheit. Freiheit ist Fremde. Und Fremde heißt: Es gibt gar keinen Zusammenhang, der dich wirklich wärmen, halten, schützen könnte.
Aber: Es gibt die Illusion. Die hat Stahlgräten. Es ist das Metallgerippe eines - Zeppelins. In Horváths »Kasimir und Karoline« die Sensation hoch überm Jahrmarkt. Das schöne, ferne Himmelswunder. Das Fahrzeug für die Luftschlösser, die hinter den hohen Clownsstirnen gebaut werden - hier das bühnenfüllende Klettergerüst, in dem gesessen, geturnt, herabgefallen, sich verkrallt und verrenkt wird. Musiker und Komponist Ingo Günther steht als zylinderbehuteter Zirkusdirektor im Frack am Hammond-Orgelchen und produziert Klänge, als schlüge er mit Eisen ans Eisen des Luftschiff-Skeletts.
Zwischen den Philosophiefetzen, etwa über Seelenwanderung und Warenhäuser, kündigt man immer wieder, ebenfalls aus »Kasimir und Karoline«, das Panoptikum der menschlichen Abnormitäten an: Lolita, das Gorillamädchen, oder den Mann mit dem Bulldog-Kopf.
Plötzlich der Satz, der Panik auslöst: »Die Krüppel wollen den Zeppelin sehen!« Das ist es, was den scheinbaren Festgrund der Welt angreift; das allerweltliche Aufstandsmotiv; das Unten, das aufsässig das Oben anschreit. Immer fängt mit diesem Begehren das Bestehende zu zittern an: Die Krüppel wollen den Zeppelin sehen. Erst sehen, dann womöglich mitfliegen. Und womöglich Luftschlösser in wirklichen Lebensraum verwandeln. Weltwunder trifft auf Weltwunde. Aus erbarmungsloser Langsamkeit findet Herbert Fritsch zu gotterbarmenswürdiger Traurigkeit.
Die setzt sich fort in der (Nachlass-)Erzählung vom kleinen Jungen, der leidenschaftlich Fußball liebt, sich im Novembergras des Spielfeldrandes erkältet und von der Fieberhexe in den Tod geholt wird. Schon zu Beginn hatte einer mit dem Ball gespielt, war von den anderen immer wieder kreischend überrannt worden: Sei du selbst, und schon bist du unter den Rädern. Jetzt folgen alle der Aufforderung, Fußball zu spielen - aber bitte leise! Leisetreten als Grauensbild der Unnatürlichkeit. Und dann schrillt es: »Stille!« Es ist das Wort, das Horváth sehr oft regieanweisend zwischen seine Szenen setzt, es ist hier ein Aufforderungsschrei wie im Arbeitslager.
Misstrauen gegen Selbstbewusstsein, Würdeverlust gegen die Freude am Amüsement - Horváths Menschen haben, so erschütternd hilflos, nur immer zu große, abstrakte Worte für die notdürftige Erklärung ihres kleinen Lebens. Die weite Welt schwebt als Zeppelin über allen - in der eigenen engen Welt aber verfinstert sich der Seelenhimmel: Es ist die Zeit, da im Dämmer der beschädigten Lebensentwürfe Deutschland langsam braun wird. Das alles wirft uns Fritsch nicht etwa entgegen, aber er offenbart im zeitlosen Strampeln und Hampeln seiner Hopser und Hüpfer das Flattern und Flehen von Lebewesen in einem Vakuum. So sieht Leben aus, bevor überhaupt ein Planet dafür entsteht.
Das Risiko an Fritschs Ästhetik besteht - wie bei jedem konsequent betriebenen Eigensinn - in der natürlichen Ermüdbarkeit derer, die zu viel davon sehen; und unterläuft er bewusst das eigene Pointen-Fließband, wird die Kritik nur lauter. Aber der Gewinn ist jener offene Denkraum, in den man tolldreist und frei hineinspringen kann, als springe man zwischen all diese Springinsfeldmäuse da auf der Bühne. Da schwärmt jemand, es werde in der klassenlosen Gesellschaft keine Scherzartikel mehr geben - und schon fällt einem die so problematische linke Ernsthaftigkeit ein. Da kräht einer: »Ein Mädchen ohne Popo ist kein Mädchen«, und es darf an den Maler Neo Rauch gedacht werden, der soeben in einem Interview warnte, man möge sich bloß hüten vor »Blockseminaren zum gendersensiblen Sprachgebrauch«.
Ein großartiges Ensemble in Kurzhosen, Flimmerfummeln, Giftfarben. Alle wie Struwwelpeter im Wunderland: Florian Anderer, Werner Eng, Bastian Reiber, Ruth Rosenfeld, Carol Schuler, Axel Wandtke, Jule Böwe und Alina Stiegler. Böwe in störrischem Ungelenk. Wandtke wieder als Zombie des Vierkantschädels. Reiber als pantomimische Extraklasse. Immer spielen und tänzeln und taumeln sie: Der Geist ist das eine, der Körper das andere; das Zusammenkommen von Idee und Materie ist ein Menschheitsproblem, es ist als friedlicher Vorgang schier unmöglich, muss aber versucht werden, denn: Wenn jeder macht, was er will, ist es mit der Kultur vorbei.
Kein Feuerwerk. Eher ein buntes Ascheglühen. Das Lachen weint. Das Weinen grinst. Sie alle hecheln und hasten, sie kauern und kuscheln, sie erdreisten sich und ermatten. Thomas Brasch kommt in den Sinn: »Was hetzt mich hin und her. Was hetzt mich atemlos.« Sie wollen glücklich sein und überleben deshalb alle Katastrophen. Aber sie lieben ihre Katastrophen zwischen den Metallstäben, auch wenn sie unglücklich bleiben. In ihnen die Artigkeit und die Bösartigkeit der Schwachen. Manchmal wirft der Zeppelin, der sich am Ende etwas hebt (einen Flug kann man das nicht nennen) bizarr schöne Schatten an die Wand. Es ist dann, als sei das Glück wie ein herbeigelogener Singvogel: Man malt ihn an die Wand und horcht dem ungeborenen Zwitschern nach.
Nächste Vorstellungen: 25. und 26. September
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!