Ein Mensch aus Menschen

Am Schauspiel Hannover ist Philipp Winklers Roman »Hool« zum Bühnenstück geworden

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Leben ist ein Käfig. Als metallenes Würfelgerüst steht es da auf der Drehbühne des Schauspiels Hannover. Nicht, dass es aus diesem riesigen Kasten keine Auswege gäbe. Die Zwischenräume sind groß genug, um hindurchzukriechen. Auch ist in eine der Wände ein zum Publikum offenes Zimmer eingebaut (Bühne: Robert Schweer).

Man kann dieses Leben also verlassen. Kann vorspringen bis zur Rampe und in den Saal hinein, kann an den Gitterstäben empor- und herabklettern, sich dazwischen verkeilen und kopfüber daran hängen lassen. Man kann unter dieses Leben kriechen wie ein Tier ins schützende Gehölz und sich obendrauf wie ein Gipfelstürmer fühlen. Heiko macht von all diesen Möglichkeiten durchaus Gebrauch. Nur loswerden kann er es nicht, sein verflucht vergittertes Leben. Ihm zu entfliehen, hieße, es zu beenden.

Heiko, der »Hool« aus Philipp Winklers im Vorjahr für den Deutschen Buchpreis nominiertem Roman, ist in Lars-Ole Walburgs Bühnenfassung ein Mensch, der sich aus anderen Menschen zusammensetzt. Vier Männer und eine Frau bilden das Ensemble des Stücks. Sie alle sind Heiko, sofern sie nicht gerade jemand anders sind. Heiko, das ist der, das sind die im rot-weiß gestreiften Shirt. Was anfangs verwirren mag, entpuppt sich im Laufe des Abends als bestechende Idee, die dem Buch und seinem Ich-Erzähler in jeder Hinsicht gerecht wird.

Philipp Winkler erzählt in seinem rüde-realistischen Roman die Geschichte eines jungen Mannes, dessen zerrüttetes Leben von einem Bund sehr verschiedener Freunde zusammengehalten wird. Gemeinsam frönen sie der Leidenschaft für Hannover 96 und dem Hass auf den Erzrivalen Eintracht Braunschweig. Gemeinsam ziehen sie im Umfeld der Fußballspiele mit Fäusten und Füßen in den Vernichtungskampf. Am Ende aber reißen sich die Freunde, einer nach dem anderen, von der ritualisierten Gewalt los und finden Wege, die sie fort aus Heikos Lebenskäfig führen. In seine letzte, besinnungslos blutrünstige Schlacht zieht der Hool, der sich dann an keinen Kodex mehr gebunden fühlt, als verlassener Mensch. In diesem Moment des Stücks ist längst klar, dass die Last des Heiko-Seins vor allem auf den Schultern von Philippe Goos liegt, während auch die anderen Heikos in ihre eigentlichen Rollen geschlüpft sind.

Winklers Debütroman gilt als erste deutschsprachige Auseinandersetzung mit dem Gesellschaftsphänomen des Hooliganismus auf hohem literarischen Niveau. Diesem Stoff, den das Buch bis in die tiefsten Poren durchdringt, mit den Mitteln des Theaters gerecht zu werden, ist eine Herausforderung. Hannovers Schauspielintendant Walburg meistert sie überzeugend - dank zweier verblüffender Entscheidungen. Zum einen spritzt in diesem Stück, das von Männer- und Tierkämpfen, von familiärer und sozialer Gewalt drastischer Art erzählt, kein einziger Tropfen Theaterblut. Zum anderen setzt der Regisseur voll und ganz auf die suggestive Kraft des Romans: Dialoge, gemeinhin das Elixier des Bühnenlebens, finden nur dort statt, wo Winkler sie auch in seinen Text geschrieben hat.

Um den Zuschauern diese Art der superszenischen Lesung plausibel zu machen, genügt ein cleverer Kniff: Gleich im Eröffnungsbild stehen die fünf Schauspieler um ein Mikrofon gruppiert, in der Ecke ein Mann am Mischpult (Musik: Matthias Meyer), und sprechen chorisch den Eröffnungsmonolog. Was Heikos rotierendes Leben werden wird, ist ganz zu Beginn, und wieder am Ende, nichts weiter als ein Tonstudio, in dem ein Text aufgenommen wird. Deutlich wird so, dass die Wirkung, die das Spiel in den zwei Stunden dazwischen entfaltet, schon aus Winklers Sprache rührt - und aus den Abgründen, die sie zum Ausdruck bringt.

Das, was man hört, und das, was man sieht, muss nicht zusammenpassen wie die Schablone auf die Skizze. Erzählt wird, wie Heikos alkoholkranker, seit einem Arbeitsunfall erwerbsloser Vater sich eine Zigarette ansteckt. Zu sehen ist, wie er auf seinem Stuhl hängt und nichts dergleichen tut. Erzählt wird, wie Heikos Schwester ihm widerwillig einen Aschenbecher reicht. Zu sehen ist, wie sie mit ihren leeren Händen fuchtelt und gute Miene macht zum bösen Spiel. Die bewegten Bilder, von den Schauspielern Carolin Haupt, Nicola Fritzen, Daniel Nerlich, Sebastian Weiss und eben Philippe Goos mit Witz und Wucht in den Raum gemalt, führen ein Eigenleben, ohne den Text zu übertünchen.

Winklers Buch und Walburgs Inszenierung führen ins Mark einer Parallelexistenz, der Außenstehende meist nur mit Verachtung, Vorurteilen und voyeuristischer Angstlust begegnen. Dabei steht der Käfig, der das Leben dieses Hools ist, mitten in unserer Welt. Das Gitter, dem er nicht entkommt, hat Heiko nicht selbst geschmiedet.

Nächste Vorstellungen: 29. September, 7. Oktober

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