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Warum die Bolschewiki die Macht ergriffen

Stefan Bollinger deutet ein wirkungsmächtiges, aber umstrittenes Weltereignis, das unverändert aktuell und lehrreich ist

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Buch des Berliner Historikers und Politologen Stefan Bollinger ist nicht das erste und wird wohl auch nicht das letzte in diesem Jahr über ein Jahrhundertereignis sein, welches im wahrsten Sinne des Wortes einst die Welt erschütterte und kardinal veränderte. Es zählt allerdings zu den heute selten gewordenen Streitschriften, die die gewaltigste Revolutionsbewegung der Menschheitsgeschichte umfassend und tiefgehend, gestützt auf der Kenntnis der historischen Quellen und diese kritisch auswertend, konträre ideologische und politische Urteile reflektiert und diskutiert. Das Buch deckt Herrschaftsinteressen ebenso auf wie die Interessen der breiten Volksmassen und zeigt zudem, wie und warum der revolutionäre Aufbruch bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden konnte.

Stefan Bollinger: Oktoberrevolution. Aufstand gegen den Krieg 1917 – 1922.
Edition Ost, 349 S., br., 14,99 €

Im ersten Teil seziert Bollinger das Geschehen in der Revolution vom Februar/März 1917 und in jener vom Oktober/November des Jahres; beide Revolutionen werden mittlerweile von der Forschung oft unter dem Begriff Russländische Revolution 1917 - 1922 gefasst. Im weltgrößten Flächenstaat entbrannt, entschied sie über das Schicksal nicht nur von Russen, sondern weiteren 190 Ethnien bzw. nationalen Minderheiten. Sie brach im dritten Jahr des ersten globalen Krieges zwischen den kapitalistischen Großmächten Europas als spontane Volksbewegung aus und wurde vornehmlich von Arbeitern, Bauern, Soldaten und Matrosen getragen. Sie richtete sich gegen den mörderischen Krieg und den durch diesen verschuldeten grassierenden Hunger, gegen kapitalistische Ausbeutung, nationale Unterdrückung und koloniale Knechtung. Das absolutistische Regime von Zar Nikolaus II. wurde innerhalb weniger Tage gestürzt.

An dessen Stelle trat zunächst eine provisorische bürgerliche Regierung, die zwar Freiheit und Demokratie verkündete, aber nicht für alle brachte. Denn diese stützte sich weiterhin auf die zaristische Generalität, kapitalistische Großunternehmer und Großgrundbesitzer. Daher gingen Krieg und Profitmacherei weiter und rissen folglich auch die revolutionären Aktionen nicht ab. Ab April 1917 radikalisierten sich die Massen zunehmend. Die Bolschewiki (Mehrheitssozialisten) unter der Führung von Wladimir I. Lenin erwiesen sich als eine handlungsfähige und kampfbereite Volkspartei. Gestützt auf die Räte, die Roten Garden, Betriebskomitees und die in Bewegung geratenen Massen konnten die Bolschewiki schließlich die Provisorische Regierung entmachten und selbst die Herrschaft erlangen. Dem historischen Exkurs zu den Ereignissen in Russland gesellt Bollinger einen Überblick über Antikriegsaktionen, soziale Aufstände und Revolutionsversuche auch andernorts in Europa.

Im zweiten Abschnitt befasst sich der Autor mit dem Thema Epoche, Erbe und Tradition. Der Leser erfährt, wie schwierig es für die russischen Präsidenten seit 1991 war, die 70-jährige sowjetische Vergangenheit samt dem letztlich gescheiterten Realsozialismus mit der wiederkehrenden bzw. neu entstehenden kapitalistischen Gesellschaft zu verbinden, zu verarbeiten, zu nutzen und neu zu interpretieren. Wladimir Putin ersetzte den traditionellen Feiertag des »Roten Oktober« am 7. November durch einen, nunmehr drei Tage zuvor begangenen »Tag der Einheit des Volkes«, der an die russischen Aufständischen erinnert, die am 4. November 1612 die polnischen Eroberer aus Moskau vertrieben.

Kritisch und differenziert erörtert Bollinger, wie die gesamtdeutsche Linke mit diesem Teil ihres Erbes umgeht. Die LINKE hat sich im vergangenen Jahrzehnt programmatisch vollkommen von der einstigen Leitrevolution getrennt, im positiven wie im negativen Sinne. Das Programm der Linkspartei von 2011 verurteilt lediglich in knappen Worten den Stalinismus. Als Erbe wiederentdeckt wurde die deutsche Revolution von 1918/19. Wenn man diese allerdings losgelöst von der russischen betrachtet, erscheint es, als wäre sie zufällig und aus dem Nichts auf die Welt gekommen.

Bollinger untersucht die Auswirkungen und Folgen der Revolution von 1917 nicht nur hinsichtlich des sowjetischen und des osteuropäischen Sozialismusmodells, sondern auch bezüglich Nachahmungen in Asien und Lateinamerika. Nach dem Scheitern des Staatssozialismus in der UdSSR und in Osteuropa, aber auch des sozialdemokratischen Reformsozialismus in Westeuropa bleibt die Frage, ob und wie eine sozialistische Alternative noch anstrebenswert wäre. Um dies zu beantworten, so der Autor, sei der Streit um die Revolution von 1917, um ihre gewollten und ungewollten Folgen wichtig.

Bollingers Fazit: Das Wesentliche und Bleibende der Politik der Bolschewiki unter Lenin und Trotzki hatte schon Rosa Luxemburg auf den Punkt gebracht. Ihnen bleibe »das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus ... vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. Es konnte nicht in Russland gelöst werden, es kann nur international gelöst werden.« Der letzte Abschnitt ist der seltsamen Renaissance des Begriffs »Revolution« gewidmet. Der Autor befasst sich mit dessen Gebrauch zur Kennzeichnung der Umbrüche 1989/1991, die plötzlich selbst vom großen Kapital euphorisch als friedliche, samtene oder singende »Revolutionen« gefeiert wurden und in einer Rückkehr in die (kapitalistische) Geschichte endeten. Die Gesellschaften Osteuropas wurden zugunsten einstiger und neuer Privateigentümer enteignet. Alte und neue Kapitalisten kamen in Scharen aus westlichen Ländern. Auch die späteren »farbigen« Revolutionen in Serbien, Georgien, der Ukraine bis nach Kirgisien waren wesentlich von außen gesteuert. Nicht friedlich verliefen und endeten die Umbrüche in Jugoslawien, in der Ukraine und im Kaukasus. Zu dem »neuartigen Revolutionstyp« zählt Bollinger auch den sogenannten Arabischen Frühling, in den sich ebenso interessierte Kreise der USA und EU einmischten und deren Ergebnis »Failed States« und globaler Terrorismus sind.

Kurzum: Ein problem- und faktenreicher Report.

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