Eine mehrfach gespiegelte Welt

Mit einer Neuinszenierung von Verdis »Otello« eröffnete das Mecklenburgische Staatstheater in Schwerin seine Opernsaison

  • Gerhard Müller
  • Lesedauer: 5 Min.

Schwerin hat Giuseppe Verdi zu seinem musikalischen Gewährsmann erkoren. In den letzten Jahren konnte man hier sehen - als Open-Air-Aufführungen im Alten Garten zwischen Theater, Museum und Schloss: »Macht des Schicksals«, »Nabucco«, »La Traviata«, »Aida«, nun aber im Großen Haus seine vorletzte Oper »Otello«, wie alle anderen auch in italienischer Sprache. Oper ist seit jeher eine politische Kunst, die Sujets sind historisch oder mythisch, die Bilder modern und voller Anspielungen. Durch die Schweriner »Aida«-Inszenierung rollten auf Bildschirmen Panzer, vermutlich aus deutschen Rüstungsexporten, und im neuen »Otello« erscheint derselbe in schneidiger schwarzer Uniform mit korrekter Offiziersmütze, aha!

Über die Regie wird zu verhandeln sein, aber zuerst muss der junge Schweriner Generalmusikdirektor Daniel Huppert genannt werden. Der neue »Otello« am Schweriner Staatstheater gehört ihm, es ist seine Stunde. Vom wüsten Sturm-Chor des Beginns bis zu dem beklemmenden Todes-Duett am Ende ist er es, der die Fäden spinnt und spannt. Die Musik erzählt hier die Geschichte, die Bühne illustriert sie.

Als man Vaclav Neumann einmal in Leipzig fragte, was er von einer neuen »Figaro«-Inszenierung halte, die er gerade dirigierte, antwortete er, das sei gequirlte … Aber das sei ihm egal, die Oper sei nur die Musik, die Inszenierung lediglich Zugabe. Die Inszenierung war immerhin von Joachim Herz, und Neumann hatte natürlich nicht recht. Und doch hatte er recht. Das musikalische Drama ereignet sich in der musikalischen Interpretation, nicht in der Bildwelt der Inszenierung. Das ist eine Banalität, mancher vergisst sie.

Nicht bei diesem »Otello«. Der Klangsturm der Leidenschaften, der zarte Lyrismus des Liedes von der Weide, Jagos Credo - das ist die Oper, und Jago, nicht Otello, ist die Hauptfigur, der gottlose Intrigant und Zerstörer. »Ich glaube, der Mensch ist ein Spiel des bösen Schicksals«, singt er, und sein Riesenschatten geistert über die Bühne, er ist der eigentliche Triumphator. Am Ende dieser bildmächtigen Inszenierung müsste eben dieser Schatten massiv über das unglückselige Paar Otello/Desdemona fallen, aber leider führt man nur Jago verhaftet hinweg, als ob nun die Gerechtigkeit triumphiere. Der Schatten wäre die Pointe gewesen.

In der Tat war der Koreaner Yoontaek Rhim die zentrale Figur, ein Bündel an Stimmkraft und Energie, Otellos Kreatur als sein übermächtiges anderes Ich.

Die Oper hat vier Akte, eigentlich aber nur zwei. In den ersten drei Akten spinnt Jago sein Netz aus Lügen und verwandelt Otello, Desdemona, Cassio und alle anderen zu Marionetten seiner Intrige. Das Taschentuch, das Jago dem Cassio in die Hände spielt, weckt Otellos grundlose Eifersucht. Das ist die erste Hälfte des Spiels. Im letzten Akt ändert sich der Gesichtspunkt. Die Intrige hat ihr Werk vollendet, es vollzieht sich die Tragödie der Verblendung. Otello, blind vor Eifersucht, bringt Desdemona um. Noch einmal durchläuft er alle Stadien von Liebe, Leidenschaft, Schmerz, Enttäuschung und maßlosem Zorn, der in der Mordtat gipfelt.

Verdi komponierte einen italienischen »Tristan«, vielmehr - ein Gegenbild dazu. Nicht die Wagnersche Todessehnsucht bestimmt seine Partitur, sondern ein leidenschaftlicher Lebenswille, der bis zuletzt in der verzweifelten Desdemona lodert, die ihr sinnloses Todesgeschick zwar erleidet, aber nicht annimmt. Die junge Regisseurin Katharina Thoma meisterte dieses Finale kongenial mit einfachsten Mitteln.

Die schwarze Bühne teilt ein weißer, von oben herabhängender Schleier, vor dem Desdemona ihrem Geschick entgegenharrt. Traurig ertönt ihr Lied von der Weide, bis Otello schattengleich auftaucht - nun von Jago kaum unterscheidbar - und sie ermordet. Es ist eine fast bewegungslose Szene, der die Bühnenbildnerin Sibylle Pfeiffer den Rahmen gab - ein Grabmal für noch Lebende. Das ist einfach, sogar »konventionell« inszeniert, zugleich aber so monumental, wie es die Musik verlangt. Dieser Wirkung entziehen konnte sich keiner.

Dem Epitaph entspricht das Kontrastbild des stürmischen Beginns - ein aufgewühltes Meer, das unweigerlich aktuelle Assoziationen hervorruft: das sinkende Flüchtlingsboot im Mittelmeer. Automatisch stellen sie sich ein, weil die Regisseurin eine neue Person in die Handlung einführt und deren stumme Partie einem wirklichen Syrer zuteilt. Khaled Dyab Agha springt als syrischer »Dokumentarfilmer« mitten in den erregten Sturmchor und filmt die Ankunft des siegreichen Orientalen Otello, der die Türken geschlagen hat, die erst ent- und dann begeisterte Menge am zypriotischen Hafen. Die Choristen werden alsbald riesig auf den Hintergrund projiziert, es ist eine Live-Übertragung für das Fernsehen, und später werden auch noch allerhand andere Szenen auf die gleiche Weise verdoppelt, so dass statt einer handfesten Bühnenwirklichkeit eine mehrfach gespiegelte fiktionale Welt entsteht. In der entfaltet sich mühelos die von keinerlei Wahrscheinlichkeit gestützte Intrige Jagos. Nicht lodernde Leidenschaft reißt die Zuschauer hin und her, sondern das Medium erzeugt eine nüchterne Distanz, der der hochgestimmte Ton der Musik widerstreitet und doch mit ihm als neuer V-Effekt eine kontrastierende Einheit bildet. Alltägliche mediale Wahrnehmungsweisen werden zum Bühnenereignis.

Desdemona erscheint im konventionellen langen rosa Kleid, zeitlos schön und mit nichts anderem als ihrer Hingabe geschmückt, aber ausgestattet mit einer bezaubernden Stimme: Karen Leiber. Seit dieser Spielzeit gehört sie dem Schweriner Opernensemble an. Mit dieser Partie gab sie einen überzeugenden Einstand, ebenso wie der finnische Gast Christian Juslin als Otello. Er war ein Mensch im Futteral und erinnerte mit der erwähnten schwarzen Uniform und deutscher Schirmmütze eher an einen schneidigen SS-General als an einen venezianischen Kommandeur.

Dass er dem Jago die erlogene Untreue Desdemonas glaubt, glaubt man ihm nicht. Der psychologische Drehpunkt in Shakespeares Tragödie und demzufolge auch bei Verdi ist ja Otellos mangelndes Selbstbewusstsein, seine orientalische Furcht vor dem europäischen Spott hinter seinem Rücken, der verhohlene Rassismus. Das ist der Angelpunkt der Tragödie, doch da spielt das schwarze Offiziershabit leider nicht mit, es beflügelt andere Assoziationen. Musikalisch hat dieser Otello eine faszinierende Präsenz, aber Verdis Figur verfehlt er leider.

Trotz alledem: Hier gelang dem Mecklenburgischen Staatstheater ein Wurf. Schwerin sucht den musiktheatralischen Anschluss an die Zeiten, als Klaus Tennstedt, Kurt Masur oder Hartmut Haenchen hier den Stab schwangen. Diesen »Otello« muss man gesehen, man muss ihn gehört haben!

Nächste Vorstellung am 21. Oktober

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