Der letzte Pionier
Manja Präkels erzählt, wie in der ostdeutschen Provinz aus Schulfreunden Todfeinde wurden
In die Liste der bemerkenswertesten Romananfänge ist nunmehr auch dieser aufzunehmen: »Vielleicht hat mir Hitler das Leben gerettet, damals.« Der erste Satz in Manja Präkels Roman »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« schafft dreierlei: Er stiftet durch den gezielten Tabubruch Neugier und Verwirrung. Er stellt eine unerhörte These auf. Und er eröffnet deshalb den Raum für eine retrospektive Erzählung, der man sich schwerlich entziehen kann.
Dass es sich bei Hitler um einen Jungen in der brandenburgischen Provinz handelt, der in den 1970er und 80er Jahren Tür an Tür mit der Erzählerin Mimi aufwächst, klärt Präkels schnell auf. Eigentlich heißt er Oliver, ist wie Mimi ein Einzelgänger und liebt es, mit ihr zusammen in den Havelgewässern zu angeln, auf Spatzen zu schießen oder eben bei Familienfeiern heimlich die Schnapskirschen der Alten zu stehlen. Aber dann, noch ehe die DDR zerbricht, zerbricht diese Freundschaft. Oliver, eben selbst noch Prügelopfer der örtlichen »Gorillas«, steht nun feixend hinter diesen, wenn sie die Leute jagen. Als sich die Mitglieder der Banden später die Haare abrasieren und, in Bomberjacken gehüllt, jeden niederknüppeln, der ihnen nicht passt, als sie brandschatzend schließlich den ganzen Ort unter ihre nächtliche Kontrolle bringen, küren sie Oliver zu ihrem Führer. Mit Unmengen Wodka wird er in Hitler umgetauft.
Manja Präkels, 1974 in Zehdenick geboren, übertreibt in ihren Schilderungen des Straßenkrieges, der seit 1990 zwischen Jugendlichen überall im Osten tobte, nicht. Wer dort damals ein Teenager war und sich nicht im Kinderzimmer versteckte, hat Ähnliches erlebt. Und wer es nicht erlebt hat, kann es aus Romanen wie Peter Richters »89/90« oder Clemens Meyers »Als wir träumten« wissen. Manja Präkels ist als Sängerin der Band »Der singende Tresen« bekannt geworden. Dass mit ihrem Debütroman zu den genannten Büchern gerade jetzt ein weiteres hinzukommt, ist auch deshalb wichtig, weil viele jener Typen, die uns »Scheißzecken« damals das Leben zur Hölle machten, heute als Repräsentanten und Wähler einer neu im Bundestag vertretenen Partei wieder triumphieren.
In einem Interview bekannte die Autorin, dass ihr Roman »zu 88 Prozent autobiografisch« sei. Wie Mimi ist Präkels die Tochter einer Pionierleiterin und Lehrerin, die im Ort zu den wenigen zählt, die nicht in Euphorie verfallen, als es mit der DDR zu Ende geht. Im ersten Teil des Buches schildert Präkels das kleinstädtische Aufwachsen in der späten DDR in allen Facetten, die dazugehörten. »Erst Jahre später«, heißt es einmal, »sollte ich begreifen, dass wir alle einer sterbenden Welt angehört hatten.« Die junge Mimi, Rednerin auf Fahnenappellen, Delegierte zum Russisch-Wettbewerb in Polen und Gast der Pionierrepublik, wiegt sich lange in einer falschen Gewissheit: »Den Faschismus, den hatte das Sowjetvolk ein für alle Mal besiegt. Und mit ihm die Nazis, bis auf ein paar, die bald sterben würden. Drüben, im Westen.« An diesem Glauben hält sie noch fest, als ihre einstigen Schulfreunde längst die alten Parolen grölen und auf Menschenjagd gehen. »Ich war so was wie der letzte Pionier«, definiert Mimi sich selbst. »Timur - ohne Trupp.«
Autobiografisch ist der Roman auch in der Schilderung der erlebten Todesängste. Gewidmet ist er zwei Menschen, die nicht mehr am Leben sind. Zwei Freunde von Mimi sterben im Buch: Der eine wird totgeschlagen. Der andere erhängt sich.
Präkels’ Roman liest sich wie eine Chronik in literarischer Sprache. Eine Dramaturgie musste die Autorin für ihr Buch nicht finden, sie wohnt den geschilderten Erfahrungen inne. Man darf von einem Roman nicht erwarten, dass er Fragen beantwortet wie die, warum die AfD im Osten so viele Wähler hat. Indem sie die Geschichte konkreter Menschen erzählt, weiß Präkels dennoch Spuren zu legen. Als nach der Wende die einen auf dem Schulhof des Gymnasiums stehen, die anderen vor dem Arbeitsamt, heißt es: »Die Regeln, nach denen wir Kinder von Putzfrauen, Ingenieuren, Lehrerinnen und Verkäufern uns einst am schönen Ostseestrand als Gleiche unter Gleichen begegnet waren, galten nicht mehr. Unsere Welt zerfiel in zwei Hälften.«
Mit Hitler, dem nicht etwa seine Führerrolle zum Verhängnis wurde, sondern die Konkurrenz im Drogenhandel, trifft Mimi auf der Beerdigungsfeier ihres Vaters Jahre später wieder zusammen. Erst da wird ihr klar, dass es die Freundschaft aus Kindertagen gewesen ist, die Oliver dazu bewogen haben mag, in seinen Hitler-Jahren eine schützende Hand über sie zu legen.
Manja Präkels: Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß. Roman. Verbrecher-Verlag, 232 S., geb., 20 €.
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