• Politik
  • Erste Sitzung des neuen Bundestags

Bundestag redet sich um Kopf und Kragen

Abgeordnete wollen Debatten von der Straße ins hohe Haus holen / AfD spielt in erster Sitzung zentrale Rolle

  • Florian Haenes
  • Lesedauer: 4 Min.

Nur wegen einer Änderung der Geschäftsordnung - der »Lex AfD« - eröffnete am Mittwoch der FDP-Politiker Hermann Otto Solms als Ältestenpräsident die erste Sitzung des 19. Bundestages. Nach alten Regeln hätte ein AfD-Politiker die Ehre gehabt. Doch die hatte man ihm verwehrt. »Die Kräfteverhältnisse sind neu verteilt«, stellte Solms das Offensichtliche fest. Er wirkt an diesem Tag fahrig, seine Hände zittern, wiederholt verspricht er sich. »Der Bundestag muss die Wählerentscheidung akzeptieren«, sagt Solms. Von der AfD-Fraktion erhält er dafür impulsiv Applaus. Die übrigen Abgeordneten beäugen sich für den Bruchteil eines Moments. Keiner will an der falschen Stelle klatschen. Dann klatschen sie doch.

Die Tatsache, dass Hermann Otto Solms und nicht der 77-jährige AfD-Abgeordnete Wilhelm von Gottberg am Dienstag die Sitzung eröffnet, zeigt, dass der Bundestag im Umgang mit der AfD noch immer unentschieden ist. Denn einerseits war in der alten Legislaturperiode jene »Lex AfD« beschlossen worden, nach der nicht mehr der älteste Abgeordnete den Altersvorsitz erhält, sondern der mit den meisten Mandatsjahren - Wolfgang Schäuble und nicht Gottberg. Doch weil Schäuble am Dienstag erfolgreich als Bundestagspräsident kandidierte, übernahm an seiner Stelle der langgediente Solms die Sitzung.

Doch der Widerspruch war, dass Solms in seiner Rede jene Linie verfocht, nach der die AfD wie jede andere Fraktion zu behandeln sei: Der Bundestag dürfe Abgeordnete nicht ausgrenzen. »Jeder, der hier das Wort ergreift, übernimmt persönlich die Verantwortung für das Gesagte.« Das war nicht nur ein Appell an die AfD, sondern bedeutete auch, dass kein Abgeordneter für seine Fraktion haftbar ist. Solms Toleranz-Linie folgend hätte am Dienstag konsequenterweise nicht er, sondern Gottberg die Sitzung eröffnen müssen. Die AfD kostete diesen Widerspruch mit höhnischem Lachen aus. Zuvor war ein Antrag von ihr, Solms abzusetzen, erwartungsgemäß gescheitert.

Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann warf dem alten Bundestag vor, mit der »Lex AfD« die parlamentarische Tradition verletzt zu haben. »Nehmen Sie zur Kenntnis, dass der alte Bundestag abgewählt wurde, in dem sie alles untereinander ausmachen konnten«, sagte er und warnte davor, die AfD künftig auszugrenzen. »Das Volk hat gewählt, nun beginnt eine neue Epoche.«

Ausgrenzung oder Integration - der zum Bundestagspräsidenten gewählte CDU-Politiker Wolfgang Schäuble wird bei dieser Frage einen klaren Standpunkt einnehmen. Schäuble hält die »Lex AfD« für falsch und lehnt Gedankenspiele, der AfD Vorsitze von Ausschüssen zu verwehren, ab. Sollten AfD-Abgeordnete Gepflogenheiten des Parlaments verletzen, wird Schäuble zögern, ihnen das Wort zu entziehen. Denn er weiß, dass die Abgeordneten ihn wegen Verletzung ihrer Rechte vor dem Bundesverfassungsgericht verklagen könnten. Niemand zweifelt, dass die AfD auf die Gelegenheit lauert.

Es schien, als hoffte Alterspräsident Solms durch Lobpreisungen des Parlamentarismus die AfD wieder los zu werden: »Der Bundestag wählt sich seine Regierung, nicht die Regierung seinen Bundestag«, dozierte er stolz. »Die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin erstreckt sich nur auf das Kabinett, nicht auf das Parlament.« Seine Botschaft: Der Bundestag muckt nicht vor dem Kanzleramt. Würden den fünf Millionen AfD-Wählern bloß Grundkenntnisse über den Parlamentarismus fehlen, hätten sie am Dienstag nur den Bundestag besuchen müssen: Der Alterspräsident hätte sie ihnen höchstpersönlich vermittelt.

Solms forderte von den Abgeordneten eine lebendigere Debattenkultur, um die AfD in die Schranken zu weisen. Er war nicht der Einzige. Die SPD-Fraktion fügte sich flugs in ihre neue Oppositionsrolle und stellte einen Antrag, nach dem die Kanzlerin, mit der die SPD derzeit noch geschäftsführend am Kabinettstisch sitzt, zukünftig im Abstand von drei Monaten vom Bundestag ins Kreuzverhör genommen werden soll. Union, FDP und Grüne verwiesen den Antrag gemeinsam an den Ältestenrat. Ein Vorgeschmack auf die zukünftige Jamaika-Koalition. Es zeichnet sich jedoch ab, dass im Ältestenrat zeitnah ein Kompromiss für packendere Schlagabtausche zwischen Opposition und Regierung gefunden werden könnte. Auch die Grüne Britta Haßelmann klagte über »ermüdende und langatmige Debatten« in den vergangenen Jahren. »Fragerecht und Regierungsbefragung bedürfen einer grundlegenden Reform«, sagte sie. Michael Grosse-Brömer (CDU) demonstrierte Offenheit für eine Reform der Regierungsbefragung und begründete die Ablehnung nur damit, dass der Antrag die rund 200 neu in den Bundestag gewählten Abgeordneten noch überfordere.

Die bislang im Bundestag vertretenen Parteien machen aus der Not eine Tugend und deuten die AfD zu einem Katalysator für Plenardiskussionen um. »Holen wir die gesellschaftlichen Debatten dorthin zurück, wo sie hingehören: in den Bundestag«, sagte Solms. Er wiederholte die zuletzt oft gehörte Plattitüde, nach der das Parlament das Spiegelbild der Gesellschaft sei. Das Gegenargument, dass sich in einer wehrhaften Demokratie nicht jede gesellschaftliche Strömung im Parlament wiederfinden muss, fand am Dienstag keine Stimme.

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