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Falsche Christen
Zum 500. Jahrestag der Reformation diskutierten Protestanten über den Antiziganismus Martin Luthers und dessen Folgen.
Unbefangen feiern können die Protestanten das Reformationsjubiläum nicht. Allzu deutlich ist geworden, dass Martin Luther selbst nach Maßstäben des 16. Jahrhunderts keine Lichtgestalt war und viele seiner Lehren in späteren Jahrhunderten eine verheerende Wirkung entfalteten. Trennen können sich die Protestanten vom Gründer ihrer Konfession allerdings auch nicht, und so bemühen sich die Kirchen seit einiger Zeit um Klärung und Aufarbeitung, auch in Zusammenarbeit mit den Repräsentanten von Gruppen, die von protestantisch legitimierter Verfolgung betroffen waren. Zwangsläufig geht es dabei nicht allein um Kirchen-, sondern angesichts der engen Verzahnung von Protestantismus, Nationalismus und Staat immer auch um deutsche Geschichte - und Gegenwart.
Weithin bekannt ist Luthers Judenfeindschaft. Viel weniger Beachtung hat bislang der protestantische Antiziganismus erfahren, der ebenfalls auf Luther zurückgeht. Die Kirche müsse sich ihrer antiziganistischen Geschichte stellen, forderte Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, bei der Fachtagung »Protestantismus und Antiziganismus«, die vor einem Monat in Berlin stattfand. Dort wurde das im Auftrag des Zentralrats von Verena Maier erstellte »Gutachten zum Forschungsstand zum Thema ›Protestantismus und Antiziganismus‹« vorgestellt und diskutiert. Noch, so stellt Maier fest, »fehlt es an übergreifenden und systematischen Studien«, so dass wichtige Fragen ungeklärt bleiben. Das betrifft sowohl die praktischen Folgen der in den Schriften Luthers und späterer Protestanten auszumachenden antiziganistischen Äußerungen als auch analytische Fragen: Welche Bedeutung haben die Parallelen zwischen Antiziganismus und Antisemitismus?
Dies allerdings lässt sich allein durch kirchengeschichtliche Untersuchungen wohl nicht klären. Es ist lobenswert, wenn sich die Kirche kritisch mit ihrer Geschichte auseinandersetzt, mag dieser Prozess auch spät eingesetzt haben und, wie in der Debatte deutlich wurde, von Indifferenz und bürokratischer Schwerfälligkeit gebremst werden. Fortschrittliche Protestanten sind hier dem Rest der Gesellschaft sogar ein wenig voraus. Die Geschichte der Verfolgung, die in der Ermordung von 500 000 Roma und Sinti durch die Nationalsozialisten einen barbarischen Höhepunkt erreichte, sollte auch in anderen Kreisen größeres Interesse finden, zumal antiziganistische Ressentiments weiterhin sehr weit verbreitet sind - ein Drittel der Deutschen lehnen Roma und Sinti als Nachbarn ab. Dass im katholisch geprägten Ungarn etwa 60 Prozent der Bevölkerung Roma und Sinti für »verbrecherisch veranlagt« halten, zeigt jedoch, dass die Bedeutung der Konfession nicht überschätzt werden sollte. Man sollte daher wohl von einem protestantisch geprägten deutschen Antiziganismus sprechen, dessen Wurzeln in der frühen Neuzeit liegen.
Die ersten »Zigeuner« in deutschen Territorien waren Christen, denen, so Quellen aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, wegen eines Rückfalls ins Heidentum eine Bußfahrt auferlegt worden war; zudem verfügten sie über einen vom Kaiser ausgefertigten Schutzbrief, dessen Echtheit offenbar nicht angezweifelt wurde. Doch berichtete bereits 1424 Andreas von Regensburg, es sei ihnen nicht erlaubt worden, »in den Städten zu wohnen«, weil sie sich »den Besitz der anderen geschickt durch Diebstahl« angeeignet hätten. Schnell kam auch der Vorwurf auf, sie seien »falsche Christen«.
Die Hintergründe sind unklar, möglicherweise hat eine Vorform des Rassismus eine Rolle gespielt, vielleicht neidete man ihnen die in der späteren Romantisierung so oft hervorgehobene angebliche Freiheit. Entscheidend war zunächst wohl schlicht die Tatsache, dass die »Zigeuner« keinen Platz in der Standesgesellschaft hatten, also keinem Feudalherren unterstanden, aber auch keiner anderen anerkannten Organisation wie etwa einer Zunft angehörten. Mit der langsamen Herausbildung des frühneuzeitlichen Staates, der einen stärkeren Zugriff auf die Bevölkerung beanspruchte, verschärfte sich ihre Lage. Der Freiburger Reichstag von 1498 erklärte sie zu Spionen des Osmanischen Reiches und verfügte, sie hätten das Reich umgehend zu verlassen. Wer dies nicht tat, durfte also straflos getötet werden. Der Spionagevorwurf verlor bald an Bedeutung, ansonsten aber hatte sich bereits um 1500 das Feindbild vom »umherziehenden Gauner«, der sein Christentum nur vortäuscht und magischen Ritualen huldigt, in der Mehrheitsgesellschaft gefestigt.
Hat Luther den christlichen Antiziganismus wie den Antisemitismus »radikalisiert«, wie etwa Wolfgang Wippermann (»Rassenwahn und Teufelsglaube«) meint? Der Reformator hat sich antiziganistischer Stereotype bedient, aber keine Schrift gegen die »Zigeuner« verfasst. Vielmehr subsumiert er sie mit den Juden unter die »losen, bösen Buben«, denen er Wucher, Verrat, Kindesentführung und Brunnenvergiftung unterstellt - ein bemerkenswertes Amalgam von antiziganistischen und antijüdischen Ressentiments, veröffentlicht 1543, im gleichen Jahr wie »Von den Juden und ihren Lügen«. Bereits 1522 hatte er die »Zigeuner« der schwarzen Magie bezichtigt und sie 1528 (»Von der falschen Bettelbüberey«) aus dem Kreis der einer Unterstützung würdigen Armen ausgeschlossen.
Diese Äußerungen aber entsprachen den Ressentiments der Mehrheitsgesellschaft. Während über die Behandlung der Juden unter Katholiken wie Protestanten kontrovers diskutiert wurde und Luther hier eindeutig die Position eines Hardliners einnahm, fehlte es, soweit bekannt, an Stimmen, die für eine barmherzigere Behandlung der »Zigeuner« eintraten. Sowohl für die damaligen »Konservativen«, die Verteidiger der Feudal- und Standesgesellschaft, als auch für die »Modernisierer«, zum Absolutismus strebende Herrscher und Handelskapitalisten, standen die »Zigeuner« aufgrund der ihnen zugeschriebenen Eigenschaften jenseits der gottgewollten Ordnung.
Die Frage nach der Verantwortung Luthers ist auch immer die nach seiner Bedeutung für die historische Entwicklung. Seine theologischen und politischen Ideen waren nicht neu, seine persönliche Bedeutung liegt eher in der kraftvollen Formulierung und Zusammenfassung dieser Ideen zu einem Glaubenssystem sowie seiner Fähigkeit, durch das Bündnis mit den Fürsten das Überleben der neuen Religion zu sichern. Entscheidend für die Wirkungsgeschichte war neben der Dogmatisierung seiner Lehren - nicht zuletzt auch der Obrigkeitshörigkeit - durch die Kirche die protestantische Prägung des völkischen deutschen Nationalismus, der die Reformation germanisierte.
So bemühte sich die Kirche seit dem frühen 19. Jahrhundert im Rahmen der preußischen »Zigeunerpolitik« um die Missionierung als Heiden klassifizierter Sinti, deren Kinder kaserniert wurden, um sie »zur Arbeit zu erziehen«. Der Übergang von dieser autoritär-paternalistischen Politik, die noch in den Zwanziger und Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts betrieben wurde, zur Mitarbeit bei der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik erfolgte offenbar bruchlos. Mangels umfassender Studien, so Maier, ist es »nicht möglich, eine Beurteilung über das Ausmaß an freiwilliger oder erzwungener Kollaboration« zu geben. Die bereitwillig herausgegebenen Kirchenbücher waren von großer Bedeutung für die Identifizierung von »Fremdrassigen« im NS-Staat, die Kirche kooperierte auch mit der von Robert Ritter geleiteten Rassenhygienischen Forschungsstelle. Widerspruch von Geistlichen ist nur in wenigen Einzelfällen dokumentiert. Hier wäre, so Maier, zu untersuchen, »wie sehr sich die NS-Rassenideologie und christliche Überzeugungen verschränkten«.
Erst Jahrzehnte nach dem Krieg und unter dem Druck der Bürgerrechtsbewegung der Roma und Sinti hat die Kirche ihre Mitverantwortung für die NS-Verfolgung anerkannt - ebenso lange benötigten allerdings auch staatliche Institutionen. Noch 1956 war die Verfolgung der Sinti und Roma vor 1943 vom Bundesgerichtshof für rechtmäßig erklärt worden, da diese sie durch »eigene Asozialität, Kriminalität und Wandertrieb« verschuldet hätten. Verschwunden ist dieses Feindbild bis heute nicht. »Ich bin fest davon überzeugt, dass antiziganistische Stereotype durchaus in unserer Bevölkerung und damit auch in unseren Gemeinden existieren«, sagte der EKD-Vertreter Martin Dutzmann bei der Tagung, »auf dem Bildungssektor hat da ganz viel zu passieren«.
Ressentiments beruhen jedoch nicht auf einem Mangel an Informationen, und die Gründe für die Diskriminierung sind nicht bei den Diskriminierten zu suchen. Wenn sich der vorgeblich ehrliche und arbeitsame Deutsche vom angeblich kriminellen und faulen »Zigeuner« abgrenzt, folgt er einer 600 Jahre alten Tradition, die er in der Regel nicht einmal kennt. Sie war bis weit in die Nachkriegszeit protestantisch begründet, ihre massenmörderische Konsequenz in der NS-Zeit erklärt sich aber nur aus dem Bündnis von Staat und Talar, der Verschmelzung von Protestantismus und völkischem deutschen Nationalismus.
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