- Kultur
- Gysi trifft
Uhrzeiger des Linken: links herum
Deutsches Theater Berlin: Norbert Lammert als Gesprächsgast Gregor Gysis
Wir leben in Zeiten von Elite-Bashing, und einige Linke versehen die liberale Mitte sogar abwertend mit der Zuweisung «sogenannt». Man könnte sagen: Es sind sogenannte Linke, die das tun. Wie zwei heitere, also geistreiche Stunden wider solche Unintelligenz wirkte dieser Sonntagvormittag im Deutschen Theater Berlin: Gregor Gysi empfing in seiner Gesprächsreihe den CDU-Politiker Norbert Lammert - Liberalität in Person.
Der Ex-Bundestagspräsident ist höflich, vorsichtig, er setzt mitunter lange Pausen vor seine Antworten: Als fürchte er jenen schönfärberischen Lügendienst, für den sich Erinnerung gern anbietet. Man spürt bei Lammert das Senkblei der Besinnung, die Suche des faszinierenden Rhetors nach größter Behutsamkeit in der Formulierung vermeintlicher Gewissheiten. Gleich zu Beginn aber offenbart er auch die Galle seines Witzes. Gysi informiert, Lammert sei 1948 zehn Monate später als er geboren - der kontert, dies sei eine Art «Wiedergutmachung» an dem, was der Welt da geschehen sei. Der Sarkasmus bleibt Würze des Gesprächs. So habe Lammerts Mutter im Kirchenchor gesungen, «was meine spätere Liebe zur Musik nicht wirklich behinderte».
Der Bochumer beeindruckt durch die selbstverständliche Art, mit der er Erfahrung in Gedanken überführt. So wird der Rückblick auf seine sechs sehr unterschiedlichen Geschwister - alle sind Kinder einer Bäckerfamilie - zur Einleuchtung, dass es ein politstrategischer Irrtum sei, man müsse nur gleiche Bedingungen für alle Menschen schaffen, und schon entwickelten sie sich homogen und reibungsfrei. Jeder Mensch gleichsam ein Planet, der um eine jeweils eigene Sonne kreist. Eine Mahnung für übertriebene Systematiker des Gesellschaftlichen.
Lammert wäre gern Musiker oder Profifußballer geworden, aber in der Politik sah er beruflich die «günstigere Wettbewerbslage». Eine hauptsächlich kommunale Ochsentour nach oben - in die Erkenntnis hinein, «dass mich Grundsatzfragen weit mehr bewegen als operative Dinge». Etwa Staat und Gerechtigkeit, Freiheit und Gesetz. Wegen der «Begabung fürs Überparteiliche» habe er jüngst nicht für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert. Für seine Leidenschaft am Parlamentarismus sei ihm «der Instrumentenkasten des Bundespräsidenten zu dürftig».
Im Stadtrat von Bochum saß er einst gemeinsam mit seinem Vater. «Für ihn eine Tortur, weil ich mit einigen anderen oft gegen die eigene CDU-Fraktion stand - die als Opposition unbegreiflicherweise regelmäßig der regierenden SPD zustimmte.» Später, noch jung im Bundestag, wehrte er sich als Erster (und zunächst Einziger) der Fraktion gegen Kohls Versuch, in der Flick-Spendenaffäre eine Amnestieregelung durchzukungeln. Kohl war es dann, der ihn zum Parlamentarischen Staatssekretär im Möllemann-Ministerium machte. Dieser Posten entstand, als es in Parlament und Apparat plötzlich «mehr bedeutende Leute als bedeutende Positionen gab». Als Lammert damals einwandte, mit dem FDP-Politiker Schwierigkeiten zu haben, blaffte ihn der Kanzler an: «So wie Sie gebaut sind, gilt das für jedes Ressort.»
Einmal spricht Gysi über seine Liebe zum deutschen Konjunktiv. «Er würde fliehen, das klingt doch weit weniger schön als: Er flöhe.» Lammert nickt, am schönsten sei freilich, diesen Satz würde es als Kennung einer weltpolitischen Not gar nicht mehr geben.« Also: Fluchtursachen beseitigen! Wie groß, wie klein sind dabei die Möglichkeiten des Einzelnen? Brückenschlag ins Private: Die »irrationale, durch nichts bestätigte Vermutung«, Brasilien sei ein hochinteressantes Land, führte Lammert vor Jahren in die deutsch-brasilianische Parlamentariergruppe - und zur Adoption eines brasilianischen Kindes. Damit der Junge »auch nicht den geringsten Verdacht« spüre, zwischen den zwei leiblichen Kindern der Lammerts womöglich anders behandelt zu werden, adoptierte die Familie zudem ein Mädchen aus Indien.
Der Kulturexperte bezeichnet Kunst als ein Hauptzeichen des humanistischen Gedächtnisses - »in Kulturgütern setzen wir uns fort, nicht in Autobahnkilometern oder Steuerregelungen.« Und die europäische Union nennt er »die intelligenteste Antwort darauf, dass von diesem Kontinent, von Deutschland, zwei Weltkriege ausgingen.« Diese Gemeinschaft habe zwar mit den Jahren ihren »Motivationseffekt« eingebüßt, aber im Zuge der Globalisierung wachse die neuerliche Herausforderung. Denn kein Nationalstaat sei mehr »Dame oder Herr über die eigenen Angelegenheiten« - das gelte auch für die Briten, »die ich bislang für ein vernünftiges Volk gehalten habe«.
Die bewegendsten Momente als Parlamentspräsident? Der erste Besuch im Amt in Israel, »militärische Ehren, die deutsche Hymne: berührend, ermutigend - was doch geschichtlich möglich ist selbst bei schier hoffnungslosester Ausgangslage«. Dann der Besuch des deutschen Papstes Benedikt XVI. im deutschen Parlament - und die Rede Navid Kermanis im Bundestag, zum Geburtstag des Grundgesetzes. Eine Wortmeldung auch gegen die Nachrede einiger Abgeordneter: Dies dürfe sich nicht wiederholen - dass ein Hausfremder den Gesetzgebenden die Versäumnisse in der Treue zum Grundgesetz auflistet. Für die Zukunft des Parlaments wünscht sich Lammert, es werde wieder »mehr debattiert als geredet«. Zu groß sei das »Ausführlichkeitsinteresse« vieler Abgeordneter, und weil jeder »auf dem Weg von der Sitzreihe zum Pult zum Festredner mutiert«, schlage er vor, dass das Wort vom Platz aus ergriffen werde.
Zu einem Geburtstag schenkte Gysi dem Parlamentspräsidenten eine kleine Standuhr, »denn mir kam es immer vor, meine Redezeit vergehe wie im Fluge, während sie mir bei anderen sehr viel länger schien«. Auf der Geschenkuhr bewegten sich die Zeiger links herum. Opposition als Versuch, die Zeit zurückzudrehen? Gysi zeigt sich im respektvollen, ehrlich intensiven Fragen einmal mehr als das Gegenteil dessen, was einen Ideologen ausmacht: Der hat immer mehr recht, als er zur eigenen Rechtfertigung braucht, und so benutzt er den Überfluss an Rechthaben dazu, andere abzuurteilen. Und befördert so das Furchtbarste an jeder Form von Politik: dieses »Reizklima des Rechthabenmüssens« (Martin Walser).
Gysi liest das Vaterunser, Matthäus 6. Dann liest Lammert eine eigene Fassung, die er gegen jenes »Gefällige« schrieb, das sich durch eingeschliffenes Wiederholtwerden längst über den Text gelegt und diese eiserne Reserve des liturgischen Bittgesangs erfolgreich entkantet hat. Original: »Dein Reich komme/, dein Wille geschehe.« Bei Lammert heißt es: »Dein Reich kommt,/ Wenn dein Wille geschieht.« Die Weisheit des Praktikers: Das Unbedingte wird nicht absolut gesetzt, sondern an Bedingungen geknüpft.
Was in Lammerts Gebetstext fehlt: »Und führe uns nicht in Versuchung.« Als wolle der Politiker darauf verweisen, dass sich eine bis zum Äußersten gehende Gewissens- und Glaubensprüfung des Menschen mit zivilreligiösem Handeln längst nicht (mehr) verträgt. Auch der Glaube muss, um in der Moderne noch ernst genommen zu werden, auf strengste Sätze wohl verzichten. Jeder Glaube. Da ist das von Applaus begleitete Gespräch wieder an seinem Kern: Geltungswille im politischen Kampf ist stets mit Selbstrelativierung zu verbinden. Politik muss gewarnt bleiben vor einem Verhältnis zur Wirklichkeit, das aus der Wahrnehmung unerträglicher Zustände zur Fiktionalisierung neigt. Nach dem Höchstmöglichen zu streben, ist genau jener Ehrgeiz, der jedes Unternehmen am sichersten verhindert.
Nun ist Norbert Lammert also frei vom Amt. Er machte stets den Eindruck eines Mannes, der fest im Sattel sitzt, weil er an keinem Stuhle klebt. Was er vermisse? Im Moment weiß er vor allem, was ihm auf keinen Fall fehlt: »Koalitionsverhandlungen«.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.