Konflikt um teure Therapie-Innovation
Dänischer Medizinbeirat verhindert Einführung des Medikaments Spinraza für Patienten mit Muskelschwund
Spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine Erbkrankheit, die Patienten keine Hoffnung auf grundlegende Besserung lässt. Die betroffenen Kleinstkinder lernen nie laufen und haben nur eine geringe Lebenserwartung. Bei Erwachsenen, bei denen die Krankheit erst spät zum Ausbruch kommt, kann dem wachsenden Verfall der Muskelmasse mit leichtem Sport und verschiedenen Therapien entgegengewirkt werden, aber der Rollstuhl wird immer notwendig sein. Umgangssprachlich wird SMA beschönigend Muskelschwund genannt.
Bis vor Kurzem existierte keine medikamentöse Behandlung, aber mit der Marktzulassung von Spinraza (Wirkstoff Nusinersen) in den USA und der EU gibt es erstmals Hoffnung. Damit ist das Medikament zwar zugelassen für die Behandlung, aber die Erstattung der Kosten ist Angelegenheit der nationalen Gesundheitsbehörden. In Dänemark wurde 2017 ein Beirat geschaffen, der Empfehlungen und Anleitungen für die Zulassung neuer Medikamente gibt. Spinraza war das erste Medikament, zu dem der Beirat Stellung nehmen musste. Trotz zustimmender Expertenempfehlungen lehnte der Beirat das Medikament als Standardbehandlung ab. Zwei Gründe wurden angeführt: der hohe Preis, den der US-amerikanische Produzent Biogen verlangt, sowie der geringe nachgewiesene Nutzen für die Patienten.
Nur für Kleinstkinder wurde die Therapie zugelassen, unter der Voraussetzung, dass der Behandlungsverlauf dokumentiert wird. In Dänemark werden im Durchschnitt pro Jahr drei Kinder mit dem Genfehler für SMA geboren. Ihnen soll nun geholfen werden, während andere Patienten leer ausgehen. Nach Ansicht des Beirates ist der nachgewiesene Nutzen bei der Behandlung erwachsener Patienten sehr gering.
Spinraza wird per Lumbalpunktion in die Flüssigkeit injiziert, die das Rückenmark umgibt. Die Prozedur muss jeden vierten Monat wiederholt werden, um die Bildung eines bestimmten Proteins zu stimulieren. Die Anwendung erfordert geschultes Personal und bei einigen Patienten auch eine Narkose. Ein kurzer Klinikaufenthalt ist notwendig.
In den dänischen Medien wird die Entscheidung als mutig und richtungsweisend bezeichnet, da der Beirat das neue Mittel nicht einfach durchgewunken hat und zudem die Ablehnung nicht nur ökonomisch begründete. Der Beirat muss laut Gesetz sieben Prinzipien folgen. Unter anderem sind steigende Kosten für Medikamente zu dämpfen, und neue Behandlungen sollen den Patienten tatsächlich nutzen. Das dänische Parlament fasste diesen Beschluss nicht nur, um nicht zu jedem Einzelpro-blem Stellung beziehen zu müssen. Es ging auch darum, die Abgeordneten vor Protesten betroffener Patienten und der Lobbyarbeit ihrer Verbände zu schützen. Politiker befinden sich hier in einer wesentlich heikleren Situation als Experten, die ihre Entscheidungen relativ anonym in Beiräten und Instituten treffen.
Die Ablehnung von Spinraza hat den Verband der Muskelschwundpatienten auf den Plan gerufen. Er beschuldigt den Beirat, trotz des Hintertürchens der Behandlung einer kleinen Patientengruppe, politischen Wünschen zur Kostendämpfung gefolgt zu sein. Der Verband argumentiert, dass bei der Kostenabwägung kleine Patientengruppen gegenüber den Betroffenen von Volkskrankheiten immer im Nachteil sein werden. Bei Letzteren haben die Pharmahersteller die Möglichkeit, ihre Kosten über große Verordnungsmengen zu refinanzieren und so auch satte Gewinne zu erzielen. Mit Spinraza ist das nicht möglich.
Der Listenpreis für eine 18-monatige Behandlung beträgt in Dänemark gegenwärtig etwa 500 000 Euro. Er kann eventuell in Verhandlungen zwischen dem Hersteller und den Gesundheitsbehörden noch gesenkt werden. Insgesamt gesehen würden die Kosten jedoch für die Anwendung bei der gesamten Gruppe der SMA-Patienten beträchtlich sein. Zudem wäre ein Präzedenzfall geschaffen, ein Einfallstor für die Zulassung weiterer neuer und extrem teurer medikamentöser Behandlungen. Dennoch appelliert der Betroffenenverband emotional, den Patienten nicht die Hoffnung auf Besserung zu nehmen, und fordert die Gleichheit der Behandlung im steuerfinanzierten Gesundheitssystem.
Auch die norwegischen Behörden haben Stellung bezogen. Sie haben die Anwendung von Spinraza im Prinzip bestätigt, lehnen die Einführung aber ab, solange der Preis so hoch ist wie aktuell. Die verantwortlichen Ärzte bezeichneten ihn direkt als unethisch und Spinraza als das weltweit teuerste Medikament überhaupt. Dass der staatliche norwegischen Pensionsfonds für etwa 500 Millionen Euro Aktien des Spinraza-Herstellers Biogen hält, entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie.
In Deutschland müssen noch bis 2018 Einzelanträge an die Krankenkassen gerichtet werden. Die Behandlung kostet im ersten Jahr 540 000 Euro.
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