Einfache Wahrheiten - so schwer?

Gedanken zum Jahrestag der Pogromnacht von 1938 in Nazideutschland

  • Michael Brie
  • Lesedauer: 9 Min.

Ich wurde 1954 geboren, 16 Jahre nach der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938. Und doch wache ich immer wieder und wieder und dies seit Jahrzehnten aus Alpträumen auf, in denen Züge nach Osten rollen - hin zu den Vernichtungslagern. Ich sehe, wie sich die Tore der Konzentrationslager öffnen, Menschen in Gaskammern qualvoll sterben. So glücklich meine Kindheit war, so unbeschwert meine Jugend - das Grauen war auch mit meiner Generation, der Generation jener, deren Großeltern und Eltern geflohen waren und überlebten. Das war es - sie hatten überlebt. Viele, sehr viele ihrer eigenen Eltern, Geschwister, Verwandten aber saßen bei den Familienfeiern nicht am Tisch; es gab keine Friedhöfe, wo auf Steinen ihre Namen standen. Und der Rauch über den Krematorien war verweht.

Mein Großvater und seine Familie haben überlebt, weil viele ihnen halfen. Deutsch-tschechische Kommunisten, jüdische Freunde, polnische Organisationen, die britische Regierung, die ihnen die Einreise im Sommer 1939 ermöglichte. Mein Großvater war auf dem letzten Schiff, das von Danzig ablegte vor dem 1. September, dem Tag, als der Zweite Weltkrieg begann. Sie überlebten auch, weil die britischen Arbeiterinnen und Arbeiter in einer Zeit, da Bomben auf ihre Städte fielen, wo die Lebensmittel knapp wurden, da alles für den Kampf gegen das faschistische Deutschland getan werden musste, mit den Geflüchteten aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei das Wenige teilten.

Von all jenen, die der Familie meines Großvaters und meiner Großmutter auf ihrer langen Flucht halfen, möchte ich an eine Frau erinnern, die - seit ich die Erinnerungen meines Vaters las - vor meinem Auge steht. Meine Großeltern hatten in einer kalten Winternacht 1939 versucht, mit ihren zwei jugendlichen Kindern die Grenze zwischen der besetzten Tschechoslowakei nach Polen zu überqueren. Es war Verrat im Spiel, es gab keine Führer über die Berge der Beskiden. Sie verirrten sich. Völlig erschöpft, am Ende der Kräfte erreichten sie ein kleines Dorf auf der polnischen Seite. Eine Bauernfamilie nahm sie auf.

Eine Verordnung der polnische Regierung hatte aber festgelegt, dass alle, die in der Nähe der Grenze aufgegriffen wurden, zurück an die deutschen Behörden übergeben wurden. Und genau dies wollte der Gendarm des Dorfes tun. Als er in die Stube der Bauernfamilie kam, um die Geflüchteten zu verhaften, da sank die katholische Bäuerin mit dem Blick auf das Bild der Gottesmutter Maria vor ihm auf die Knie, umfasste sie und bat für die Juden um Erbarmen.

Es wurde meinen Großeltern geholfen, sie gelangten tiefer ins Landesinnere, wo sie für den Moment in Sicherheit waren.

Der Rückblick auf die Jahre von 1933 bis 1945 geschieht oft vom Ende her. Die Bundesrepublik Deutschland hat 1996 den Tag der Befreiung von Auschwitz durch sowjetische Truppen am 27. Januar 1945 zum nationalen Tag des Gedenkens gemacht. Dies war meines Erachtens eine falsche Entscheidung. Denn wo begann der Weg nach Auschwitz? Die Maxime »Du sollst nicht töten!« ist die Grundlage jeder Zivilisation. Wodurch konnte diese Grundlage so völlig zerstört werden? Spätestens seit Auschwitz wissen wir, dass dem organisierten Massenmord schon dort das Tor geöffnet wird, wo die Würde von Menschen durch staatliches Handeln oder staatlich geduldetes Handeln verletzt wird bzw. der Staat nicht schützend eingreift.

Der erste Schritt auf dem Weg zum Morden war und ist immer wieder, rechtlich oder auf andere Weise gesellschaftliche Gruppen zu diskriminieren, Menschenwürde »legal« zu verletzen. Am 7. April 1933 hatte die deutsche Reichsregierung das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« erlassen, auf dessen Basis es möglich wurde, dass »Beamte nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen aus dem Amt entlassen werden, auch wenn die nach dem geltenden Recht hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen« (Paragraf 1, Abs. 1). Im Weiteren hieß es dann: »Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand (§ 8 ff.) zu versetzen; soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen.« (Paragraf 3, Abs. 1). Der legale Weg nach Auschwitz begann mit diesem »Gesetz«. Hier wurde das Tor zur Vernichtung des europäischen Judentums geöffnet. Wenn erst einmal der Mitbürger, die Mitbürgerin aufgrund von abstrakten Merkmalen klassifiziert sind und auf dieser Basis schlechter gestellt werden als andere, dann entsteht eine schiefe Bahn. Mit der Klassifikation in Arier, Juden, Halb- und Viertel-, Achteljuden begann es. Menschen mit Behinderungen, Roma und Sinti, Ukrainer und Russen, Kommissare der sowjetischen Armee, Schwule und Lesben - die Liste solcher tödlichen Klassifikationen ist lang. Wer auf diese Liste kam, wurde durch die Nazis zum Tode verdammt.

Es sind diese nur scheinbar kleinen Schritte der Klassifikation, die in die Barbarei führten. Die Fundamente einer an der Menschenwürde orientierten Zivilisation werden zerstört, wenn solche Klassifikationen über Wohl und Wehe und letztlich dann über Leben und Tod entscheiden. Es wäre deshalb richtig, den 7. April zum Gedenktag dafür zu erklären, dass die große Mehrheit der Deutschen jener Zeit dem Zivilisationsbruch der Klassifikationen nach rassistischen und politisch-totalitären Gesichtspunkten keinen Widerstand entgegensetzten.

Zum 3. Oktober 1990 trat die DDR der Bundesrepublik Deutschland bei. Nach der Niederlage und bedingungslosen Kapitulation vom 8. Mai 1945, die das Grauen des deutschen Nationalsozialismus beendete, wurde nun die Teilung Deutschlands überwunden. Durch die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges wurde die Bundesrepublik in die volle Souveränität entlassen. Sie wurde im Sinne des Völkerrechts wieder zu einem »normalen« Staat. Damit aber liegt die Verantwortung für diese »Normalität« wieder ganz bei den Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern Deutschlands.

Worin aber bestand die »Unnormalität« der Bundesrepublik Deutschland vor 1990? Sie bestand u. a. auch darin, dass bei der Verabschiedung des Grundgesetzes mit Artikel 16 GG »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« international Neuland betreten wurde - aus der Verantwortung Deutschlands für die staatlich organisierte Vernichtung vieler Millionen Menschen, als Dank an die Völkergemeinschaft, die immerhin 800 000 verfolgte deutsche Staatsbürger aufnahm sowie in Anerkennung der besonderen Verpflichtung, Menschen vor Diktatur, Diskriminierung, Folter, Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung zu schützen. »Man kann ohne Übertreibung, erst recht ohne nationale Überheblichkeit sagen, die Bundesrepublik habe damals mit diesem Artikel über alle geltenden Menschenrechtskonventionen hinaus einen neuen Standard gesetzt, indem sie einzelne Menschen, ohne kategoriale Unterschiede zu machen, nicht nur als Flüchtlinge aufnimmt und schützt, sondern ihre Aufnahme zu einem Recht ausgestaltet, das mit allen Rechtsweggarantien, die ein heutiger Rechtsstaat seinen Bürgern gewährt, versehen ist«, betonte Pfarrer Herbert Leuninger, Mitbegründer von Pro Asyl.

Im Mai 1993, zweieinhalb Jahre nach der Entlassung der Bundesrepublik in die »Normalität«, wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik von 1949 durch eine deutliche Einschränkung des Asylrechts verändert. Vor allem wurden das »individualrechtliche Konzept der Asylgewährung« durch den neuen Artikel 16a GG zurückgenommen und die menschenrechtliche Verankerung des Rechts auf Asyl weitgehend aufgehoben. Wie Wolfgang Schäuble, zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, in der Begründung dieser Grundgesetzänderung bemerkte, sollte »auch in der Asylpolitik am deutschen Wesen die Welt nicht genesen«. Mit Verweis auf die besonderen Verbrechen wurde der Anspruch auf eine besondere Verantwortung und Vorbildlichkeit nicht mehr begründet, sondern aufgegeben! Seit 1977 hat es mehr als 30 Veränderungen von Gesetzen und Verordnungen gegeben, die jedes Mal zu einer Verschlechterung der Stellung der Asylbewerber führten.

Meine Angst wächst, dass wir wieder eine schiefe Bahn beschreiten, zivilisatorische Hemmschwellen einreißen, die uns vor offener Barbarei bewahren. Die moderne Zivilisation richtet Frühwarnsysteme gegen Tsunami ein und bedürfte doch vor allem der Frühwarnsysteme gegen jene Barbarei, die immer wieder in ihr entsteht und sie zu überwältigen droht. Während die Generationen jener, die die totalen Zusammenbrüche der westlichen Zivilisation in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts erfahren hatten, sich dessen zumindest in ihren besten Vertretern bewusst waren, nehmen die nachfolgenden Generationen diese Erfahrung keinesfalls selbstverständlich auf ihrer Reise durch die Geschichte mit.

Hannah Arendt unterscheidet in ihrer großen Studie »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« jene Prozesse, durch die Elemente von totaler Herrschaft und Barbarei freigesetzt werden, von jenen Vorgängen, durch die sie »ihre totalitäre Kristallisationsform« erhielten. Im ersteren Fall handelt es sich um das nichtintendierte Nebenprodukt von Strategien, die keinesfalls auf totale Menschenbeherrschung, geschweige denn auf Menschenvernichtung als Selbstzweck gerichtet waren. Es sind »Kollateralschäden« anderer Vorgänge, die nur allzu gut begründet werden können. Im letzteren Fall werden Systeme errichtet, die direkt auf totaler Herrschaft beruhen und Menschen dem staatlich organisierten gewollten Mord aussetzen. Im ersteren Falle gilt, dass »selbst Gräuel und Grausamkeit sich noch an gewisse Regeln hielten, bestimmte Grenzen nicht überschritten, und man im großen Ganzen bei der Beurteilung politischer Ereignisse noch mit dem gesunden Menschenverstand auskam«. Im letzteren brechen die Möglichkeiten einer sinnvollen Deutung völlig zusammen. Die Barbarei wird zum totalitären System.

Es häufen sich die Zeichen, die einen offenen Zivilisationsbruch befürchten lassen. 40 Jahre lang schon dauert der Krieg in Afghanistan. Der Irak ist über 30 Jahre im Krieg. Nordafrika, der Kaukasus, Osteuropa - die Kriege breiten sich aus. Heute gibt es mehr Flüchtlinge als nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Innern der Europäischen Union verlieren Menschen den Halt, haben Angst vor Abstieg, breiten sich Hass und Neid aus. Terrorismus im Namen des Islam und rechter Terrorismus im Namen des Vaterlandes und der Rasse treffen aufeinander.

König Salomon wird der Spruch zugeschrieben: Wo Menschen keine Hoffnung haben, werden sie wüst und wild. Heute, da wir der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 erinnern, müssen wir über Hoffnung reden. Es kann sehr viel getan werden, um den Elementen der Barbarei zu widerstehen, einen erneuten Zivilisationsbruch zu verhindern. Wir werden geprüft und sollten nicht für zu leicht befunden werden. Es gibt ganz, ganz einfache Wahrheiten, die aber immer wieder erinnert werden müssen - gerade in Zeiten der Not und Bedrängnis:

Da ist die Wahrheit, dass Menschlichkeit menschlich macht und Hass und Neid uns zerstören. Natürlich ist es leichter, zu hassen und zu nehmen als sich zu engagieren und zu geben. Aber reicher werden wir und seliger nur durch Mitmenschlichkeit.

Da ist die Wahrheit, so schwierig es ist, so mühselig, so aufwendig, auch so kostspielig es sein mag: Immer muss der einzelne Mensch gesehen werden. Menschenwürde kann nicht nach Klassifikationen verteilt werden. Sie steht jeder Einzelnen und jedem Einzelnen zu, damit sie uns allen gesichert bleibt.

Da ist die Wahrheit, dass in Fragen der Menschenwürde und Menschlichkeit die kleinen Dinge wichtig sind. Dort wird über die großen Frage entschieden. Wir dürfen nicht beginnen, die kleinen Verletzungen hinzunehmen, denn dann lassen wir es zu, dass große Verbrechen möglich werden.

So schwer es ist, wir müssen über diese ganz einfachen Wahrheiten reden.

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