- Kultur
- 1. FC Union Berlin
Die gute alte Zeit
»Alles auf Rot« - im BE wurde eine literarische Hommage an den 1. FC Union vorgestellt
Dieser Text verletzt die Regeln der journalistischen Sorgfaltspflicht. Es fehlt ihm an Distanz. Einem Gegenstand, der sich um das eigene Herz gewickelt hat wie ein von Mutti gestrickter Schal um den Hals, kann ein Autor sich nicht unter dem Tarnmantel des objektiven Berichts annähern. Deshalb dies vorweg: Ich bin Mitglied des 1. FC Union Berlin, Inhaber einer Dauerkarte für die laufende Zweitligasaison und durch den Besitz einer Aktie auch »Stadionbesitzer«. Mein erstes Spiel in der Alten Försterei - Union bezwang den Westverein Bayer Uerdingen im Intertoto-Cup mit 3:2, um dann im Rückspiel 0:3 zu verlieren - sah ich am 21. Juni 1986. Heute stehe ich bei den Heimspielen neben meinem Sohn.
Der Gegenstand dieses Textes ist das soeben erschienene Buch »Alles auf Rot. Der 1. FC Union Berlin«, das am Mittwochabend im Kleinen Haus des Berliner Ensembles vorgestellt wurde. Fußball im Brecht-Theater? Da geht es schon los. Union ist längst nicht nur ein sportliches Phänomen. Aber auch das, was landläufig unter dem Begriff Fankultur verstanden wird, reicht nicht hin, um das Faszinosum zu begreifen. Union ist Kultur im weitesten Sinne: historisch und regional, soziologisch und ästhetisch. Bei dem Buch handelt es sich denn auch mitnichten um eine weitere Vereinschronik oder dergleichen, sondern um eine literarische Anthologie. Die darin enthaltenen Autoren allerdings, zu einem guten Teil Spieler in der Autorennationalmannschaft, sind nur zum Bruchteil originäre Unioner. Schon das ist bemerkenswert.
Enthalten sind Reportagen und Interviews, vor allem aber erzählerische Annäherungen an das Union-Mysterium, verfasst von über 30 mehr oder weniger namhaften Schriftstellern, darunter leider nur vier Frauen. Herausgegeben wurde »Alles auf Rot« - der Titel ist einer Choreo der Köpenicker Ultras entlehnt, deren zweiter Teil »Union oder nix« lautete - von dem Dichter und Romancier Jan Böttcher und dem Fußballautor Frank Willmann. Willmann bekennt sich zum FC Carl Zeiss Jena. Böttcher, seit Langem Berliner, stammt aus Lüneburg und ist bislang im Zusammenhang mit Fußball nicht auffällig geworden. Warum dann gerade jetzt?
»Etwas«, schreibt Böttcher, der sich erst in der vergangenen Saison näher mit dem 1. FC Union zu beschäftigen begann, »war anders im Staate Köpenick. Etwas wurde Eisern gerufen, war aber aus menschlicher Wärme gemacht. Etwas war laut, kam aber erstaunlicherweise gar nicht aus den Lautsprecherboxen. Etwas war offen und im Prozess - unbefestigt also wie der Waldweg hinter dem Stadion.« Das Gefühl, einem Ereignis beizuwohnen, bei dem die allgegenwärtigen Gesetze des Marktes noch nicht die Regie übernommen haben, mag den Schriftsteller herausgefordert haben. Der Eindruck, sich an einem Ort zu befinden, der als Festung gegen den wettbewerbsfixierten Erfolgszwang verteidigt wird, mag seinen Instinkt geweckt haben, dieses Gebiet mit seinen eigenen Mitteln zu verteidigen - solange es noch da ist.
Bayern-Fan Benedict Wells, neben Thomas Brussig (Hertha), Annett Gröschner (Magdeburg) und Torsten Schulz (Union, Babelsberg) der jüngste Autor, der im BE seinen Buchbeitrag las, fühlt sich bei seinem ersten Besuch der Altern Försterei gar an Asterix erinnert, als die Fans nach dem Spiel nicht daran denken, die Ränge zu räumen, sondern die Mannschaft noch lange frenetisch feiern. »Und ich denke: Wir befinden uns im Jahre 2017 n. Chr. Ganz Europa ist dem kommerziellen Fußball verfallen ... Ganz Europa? Nein! Ein von unbeugsamen Köpenickern bevölkertes Dorf hört nicht auf, Widerstand zu leisten. Okay, ziemlich pathetisch. Aber genau so fühlt es sich in diesem Moment an.«
Was die Union-Gallier im Publikum für Wells einnimmt, ist die Tatsache, dass er sich trotz aller Schmeichelei zum Römer-Sein bekennt. Auch wenn es seinem Kopf oft schwer falle, dem durchberechneten FC Bayern die Treue zu halten, spiele sein Herz ihm jedes Mal einen Streich, wenn er sich einem anderen Verein zuwende. Wäre es außerdem nicht der »Anfang vom Ende«, fragt Wells mit Blick auf Union, »wenn plötzlich immer mehr Leute wie ich in dieses Biotop eindringen würden - so wie auch der FC St. Pauli durch die Erfolge eine Kommerzialisierung seines Kults erleben musste?«
Von der Gratwanderung zwischen Hype und Heimat, Erfolg und Gesichtsverlust ist viel die Rede in diesem schönen Buch, das aber letztlich selbst auf der Euphoriewelle reitet, die den 1. FC Union derzeit ins Ungewisse brausen lässt. Der personifizierte Beweis dafür, dass ein Aufstieg möglich ist, ohne den Ursprung zu verleugnen, heißt Christian Arbeit. Lange vor dem legendären Stadionumbau, zu einer Zeit also, da man nach einem Spiel noch Aschestaub ins Taschentuch schnaubte, fieberte der langhaarige Sympathieträger Schulter an Schulter mit uns an der Mittellinie. Dann wurde er Presse- und Stadionsprecher. Am Mittwoch stand Arbeit nun singend und trompetend im BE, um mit Band den Soundtrack zur Buchpremiere zu liefern. Als dann auch noch Sporti auf die Bühne sprang, um sein »Eisernet Lied«, das vor jedem Heimspiel durchs Stadion rockt, mit der geliebten Reibeisenstimme ins Theater zu tragen, lief in meinem Kopf längst das Stück von den alten Zeiten. Aber das, fällt dem klugen Benedict Wells dazu ein, »ist eben das Problem an der guten alten Zeit: Sie muss vorbei gehen, um zur guten alten Zeit zu werden.«
Lesung und Konzert am 19.11., 18 Uhr, im Kino Union, Friedrichshagen.
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