- Politik
- Gescheiterte Koalitionsbildung
Jamaika in der Tonne
Ausstieg der FDP aus den Sondierungen erzwingt Debatte über Neuwahlen
Die Sondierungen für ein Jamaika-Bündnis sind geplatzt, die Regierungsbildung dauert länger als gedacht - vorerst wird Deutschland verwaltet statt regiert. Na und, könnte man sagen, wo ist eigentlich der Unterschied zum bisherigen Zustand der Großen Koalition? Und außerdem: Ohne neue Regierung haben auch unsere Nachbarn Belgien und die Niederlande durchgehalten, ohne dass sie zusammengebrochen wären. Insofern ist es schade, dass der für Montag geplante Besuch des niederländischen Premiers in Berlin abgesagt wurde - er hätte einen kleinen Crashkurs in Sachen Krisenmanagement und erschwerter Verhandlungsführung geben können.
Ein schwarz-gelb-grünes Bündnis fällt nach der Absage der FDP am späten Sonntagabend jedenfalls aus, vorerst zumindest. Und das ist auch besser so. Denn was hätte es gebracht? Dauerstreit, vier Jahre von parteipolitischen Eitelkeiten begleitetes neoliberales Gewürge. Vor allem aber: eine Regierung ohne jede sozialpolitische Ambition. Schlimmer geht’s kaum. Insofern darf man dem FDP-Chef Christian Lindner persönlich danken, dass er die Notbremse gezogen hat, wenn auch aus ganz anderen Motiven. Bei seiner Erklärung »Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren« denkt er schon an den Wahlkampf danach.
Die Grünen dagegen waren zu fast allem zu überreden. Ihre Zugeständnisse bei den Themen Umwelt und Flüchtlinge übertrafen alles, was sich die Partei bis vor Kurzem höchstens in düsteren Träumen ausmalen konnte. Wenn die schier unendlichen Sondierungen eines gebracht haben, dann diese Erkenntnis: Die Grünen-Spitze ist für Schwarz-Grün mehr als bereit. Vor lauter staatspolitischer Verantwortung wäre sie mindestens bis zur Vorhölle gegangen. Auch am Tag nach dem Ende von Jamaika betonte Fraktionschef Anton Hofreiter die ungebrochene Gesprächsbereitschaft, »um in wichtigen Dingen was für dieses Land voranzubringen«. Bei Flucht und Migration habe sich »ein großer Kompromiss von CSU zu Grünen« angedeutet, der »diesem Land wirklich gut getan« hätte, erklärte Hofreiter, der dem linken Parteiflügel zugerechnet wird. Wenn die FDP mal nicht mehr stört: Schwarz-Grün kann kommen, irgendwann demnächst.
Insofern stellt sich die Frage, welche politische Alternative sich jenseits des bürgerlichen Jamaika-Blocks in Machtverhältnisse übersetzen lässt. Rot-Rot-Grün scheint allein als Idee so weit entfernt wie schon lange nicht mehr. Mit wem denn? Mit den Grünen, die sich gerade erst mit der Union und auch mit dem Intimfeind FDP arrangiert hatten? Mit einer SPD, die den eigenen Durchmarsch halluziniert? Die im kürzlich beendeten Wahlkampf von einem Mitte-links-Lager nichts wissen wollte?
Eine linke Regierungsoption unter Einschluss der Linkspartei wird in dieser Sozialdemokratie von keiner nennenswerten Kraft angestrebt. Das dürfte sich auch in einem kurzatmigen, taktisch geprägten neuen Wahlkampf nicht ändern. Der SPD-Vorstand überhörte am Montag Lockrufe aus der Union und bekräftigte einstimmig, dass es keine Rückkehr in eine Große Koalition geben soll. Allerdings sehen das nicht alle namhaften Genossen so. Die Ratschläge reichen von neuem Nachdenken für den Fall, dass Kanzlerin Merkel sich zurückziehe (Johannes Kahrs, Sprecher des rechten SPD-Flügels) bis zur Unterstützung einer unionsgeführten Minderheitsregierung (Ex-SPD-Chef Hans-Jochen Vogel). Davon aber will Merkel nichts wissen. Sie erklärte sich bereit, erneut als Kanzlerkandidatin in den Wahlkampf zu ziehen.
Von einer Mitte-links-Option spricht im Moment nur die Linkspartei. Die Thüringer Landesvorsitzende Susanne Henning-Wellsow etwa sieht in einer Neuwahl »die Chance für einen politischen Aufbruch«. Um etwas gegen die enorme Schere zwischen Arm und Reich zu tun, müsse man »um Mehrheiten links von der Mitte kämpfen«. Ob es bald zur Wahlwiederholung kommt, ist ungewiss; Bundespräsident Frank- Walter Steinmeier will die Parteien nicht so einfach aus der Verantwortung zur Bildung einer Regierung entlassen.
Zwar behaupten jetzt Vertreter dieser und jener Partei, sie müssten eine erneute Bundestagswahl nicht fürchten. Aber das ist öffentlicher Selbstbetrug. Sie haben alle etwas zu verlieren, auch der Hasardeur Christian Lindner, dessen nächtlicher Auftritt wohlkalkuliert war. Sicherlich: Das Scheitern von Jamaika ist am Ende womöglich besser als sein Zustandekommen, und eine erneute Wahl würde die Demokratie nicht gefährden. Nichts ist dagegen einzuwenden, dass die Bürger einmal mehr entscheiden. Nur: Die Wahlumfragen, seit der Bundestagswahl kaum verändert, können jetzt ins Rutschen geraten. Im Hintergrund wartet die rechtspopulistische AfD, die sich zuletzt auffällig zurückhielt. Sie musste nichts tun: Mit ihrem unsäglichen Streit über Flüchtlingspolitik und Obergrenze, Familiennachzug und Zuwanderung haben die Jamaika-Unterhändler die Stichworte für das AfD-Publikum geliefert. Zumindest eine Partei gibt es, für die es läuft.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.