Rund um den Alexanderplatz

Michael Bienert führt in einem eindrucksvollen Buch durch das Berlin Alfred Döblins

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.

Vierzehn Jahre hatte er die Stadt, aus der ihn die Nazis 1933 vertrieben hatten, nicht gesehen. Jetzt, im Juli 1947, kam er wieder. Er wusste, was ihn erwartete. »Es ist keine große Phantasie nötig«, schrieb er in seinem Bericht »Schicksalsreise« (1949), »nachdem man ein Dutzend zertrümmerter Städte gesehen hat, sich auch diese vorzustellen. Verstümmelung ist Verstümmelung, also auch hier die traurigen Reihen der Häuserskelette, die leeren Fassaden, die Schutthaufen, alles, was die Kriegsfurie und der Brand übriggelassen hatten.« Natürlich zog es ihn zum Alexanderplatz, wo sein berühmtester Roman spielt. Er kam sich vor wie Diogenes mit der Laterne. Er suchte und fand nichts. Alles zerbrochen und niedergetreten. Die Orte des Franz Biberkopf gab es nicht mehr.

In einem reich bebilderten Buch sind sie nun wieder da, festgehalten auf alten Fotografien und kundig kommentiert. Verfasst hat es Michael Bienert, der mit Sicherheit beste Kenner der Stadt und ihrer literarischen Schauplätze. Seit über fünfundzwanzig Jahren führt er auf ausgedehnten Spaziergängen zu den Adressen namhafter Autoren sowie den Gegenden und Ecken, die sich in Dramen, Romanen oder Erzählungen wiederfinden; und im Verlag für Berlin-Brandenburg hat er mit zwei großartigen (und erfolgreichen) Bänden seine Ausnahmestellung untermauert. Das eine holt sehr anschaulich das Berlin E. T. A. Hoffmanns zurück, das andere folgt in Bildern und Texten den Spuren, die Erich Kästner hinterließ.

Und nun Alfred Döblin, der Ur-Berliner, auch wenn er 1878 in Stettin zur Welt kam. »Ich stellte fest«, schrieb er in einer Erinnerung, »daß ich in dieser Seestadt geboren bin, möchte es aber ebenso wie die Stadt dabei bewenden lassen.« Dort, hat er 1922 in einem Interview erklärt, sei er nur »vorgeboren«. Als er zehn war, kam er an einem Oktoberabend mit Mutter und den vier Geschwistern (der Vater hatte sich mit einer Jüngeren aus dem Staub gemacht) in die Stadt. Unterwegs, in der Bahn, machten ihm Mitreisende mit ihren Erzählungen von Fabriken und Rauch Angst. Er geriet in Panik. Er stand am Fenster, starrte in die Finsternis und kam sich verloren vor. Man bezog in der Blumenstraße nahe dem Friedrichshain eine kleine, ärmliche Wohnung, konfrontiert mit Dreck, Feuchtigkeit, Lärm und Ratten, blieb aber nicht lange und wechselte später mehrmals das Quartier. Bienert, kein Wunder, hat alle Adressen ausfindig gemacht und im Anhang die Umzüge wie auch die verschiedenen Schulen verzeichnet, die der junge Döblin besucht hat. Natürlich sagt er auch, welche dieser Gebäude man heute noch findet, welche zerstört wurden oder einem Neubau gewichen sind.

Am vertrautesten, sagt Döblin, war ihm immer die Gegend von der Blumenstraße bis zum Spittelmarkt. Da lagen die Jannowitzbrücke und das Märkische Museum und das Gymnasium in der Wallstraße, das er besuchte (auch Nazi-Märtyrer Horst Wessel und Stasi-Chef Erich Mielke drückten hier die Schulbank). Seine Leistungen, anfangs noch gut, seien im Lauf der Jahre immer schlechter geworden, und als er das Abitur in der Tasche hatte, »spie ich auf der letzten Stufe der Schulfreitreppe aus, so ekelhaft war mir die Schule«. Sie habe ihm, meinte er 1930, »die Schlechtigkeit des gesamten früheren Herrschaftssystems in Reinkultur vor Augen« gebracht. Freilich: Trotz der harschen Urteile hat er das Gymnasium mit umfassender Bildung verlassen, und dass er unter seinen Schulbüchern Kant und Schopenhauer liegen hatte, konnte selbst der Ordinarius nicht verhindern.

So, im Blick immer den später weltberühmten Autor, wandert Bienert durch die Stadt und bringt dabei ein Kapitel Sozial- und Kulturgeschichte der Weimarer Republik in Erinnerung: Stettiner Bahnhof, Ackerstraße (da hat Franz Biberkopf auf seine Freundin Ida eingeschlagen), Tegeler Gefängnis (wo er seine Strafe verbüßte und Carl von Ossietzky im Mai 1932 seine Haft antrat), Hallesches Tor, Marstall, Frankfurter Allee (wo im Haus Nummer 340, heute Karl-Marx-Allee 129 oder 130, der Arzt Döblin seine Praxis hatte), hinaus zur Irrenanstalt in Buch und wieder zurück in die Mitte.

Das ist wunderbar leicht beschrieben, voller Geschichten, Anekdoten, Fakten, Informationen und Hinweise, illustriert mit historischen Karten, Fotos, Faksimiles, Lithografien, Filmszenen. Es gibt Luftaufnahmen und Übersichtskarten, einen Blick ins Adressbuch von 1913 mit den Namen der Döblin-Familie, einen Auszug aus der gedruckten Schulchronik von 1900, die das bestandene Abitur ausweist, Bilder aus den Revolutionstagen (behandelt in der Romantrilogie »November 1918«), Zille-Zeichnungen, Haus- und Platzansichten von gestern und heute, die nicht nur die teils dramatischen Veränderungen in der Stadt zeigen, sondern dem Interessierten auch helfen, Döblins Orte zu identifizieren.

Fast am Schluss des Bandes landet Bienert auf dem Alexanderplatz, den schon der Schutzumschlag ins Blickfeld rückt, vorn mit einer Ansicht von 1931, hinten mit einer Aufnahme aus diesem Jahr. Im Roman spielt er gar nicht mal die zentrale Rolle, denn meist ist Franz Biberkopf nur in seiner Nähe, in den Nebenstraßen und Kneipen, zu finden. Aber als das Buch 1931 verfilmt wurde, hat man den fülligen Heinrich George als Biberkopf natürlich mitten auf den Platz gestellt, wo er seine patentierten Schlipshalter anzupreisen hat. Auch damals wurde hier heftig und lärmend gebaut. Die Stadt war auf dem Weg zur Metropole, und zu den Einwohnern, die den langen Prozess täglich beobachtet haben, gehörte Döblin. Der Junge ging mit der Mutter schon über den Alexanderplatz, als dort noch keine Straßenbahnen fuhren, kein Kaufhaus stand und niemand zum U-Bahnhof eilen konnte. Später kam er von der Frankfurter Allee jeden Mittag hierher, immer zu Fuß, setzte sich ins Café Gumpert und las die Zeitung. »Der wirre Lärm«, meinte er, »war mir beim Schreiben angenehm.«

Döblin erschrak dann doch, als er 1947 den zerstörten Platz wiedersah. Zehn Jahre danach, im Juni 1957, ist er in Emmendingen gestorben. Seit 2000 erinnerte eine Textinstallation, die großflächig die Fassade eines zehnstöckigen Bürohauses schmückte, mit einer Zitatcollage an seinen Roman »Berlin Alexanderplatz«. Doch die Buchstaben verblassten und waren nach zehn Jahren verschwunden. Seitdem ist dies wieder ein Ort, der ohne sichtbaren Bezug zu Döblin auskommen muss.

Michael Bienert: Döblins Berlin. Literarische Schauplätze. Verlag für Berlin-Brandenburg, 192 S., geb., 25 €.

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