All you need is Staatsgewalt
Ein Arte-Film und eine Webserie erinnern an die Hippiekultur in der Sowjetunion
In einer grisseligen Farbaufnahme laufen junge, langhaarige Menschen mit Rucksäcken und einem Kreuz an einer langen Stange an einem Strand entlang - ins Vage. Das Bild wechselt in Technicolor. Langhaarige Männer und Frauen gehen einen Strand entlang, grauhaarig. Drei junge Mädchen fragen die Veteranen: »Alterchen, warum wurdet ihr Hippies?« - »Weil wir die Nase voll hatten. Wir haben begonnen, alles zu machen, was verboten war.« Lachen. Die Mädchen lächeln etwas verlegen und ratlos zurück. Dann setzt die wabernde E-Gitarre ein.
»Soviet Hippies«, ein Film der estnischen Regisseurin Terje Toomistu, ist ein kleines Meisterwerk über ein Segment der östlichen Kulturgeschichte, das bis heute nur den Wenigsten außer- und innerhalb der ehemaligen Sowjetunion bekannt sein dürfte. Dem Westen taugten diese Weltverbesserer nicht als repräsentable Dissidenten, man hatte schon mit der eigenen Alternativkultur seine handfesten Schwierigkeiten, und im Osten gilt bis heute die Abweichung von der Norm nicht gerade als karrierefördernd.
Schon das Zarenreich war ein bürokratisches Monster, und die nach 1917 einsetzende revolutionäre Phase der Experimente, der Emanzipation und Mitbestimmung war spätestens 1928 mit der Neuen Ökonomischen Politik zum Ende gebracht worden. Die Durchmilitarisierung der Gesellschaft und die Patriotisierung des Geisteslebens mit Beginn des Zweiten Weltkrieges trugen das Ihrige dazu bei, aus dem »Neuen Menschen« ein funktionierendes Rädchen der Maschine zu machen. Auflehnung gegen die Erstarrung gab es immer. Aber jetzt, in den späten 1960er Jahren, tauchten diese merkwürdig unpolitischen Jugendlichen mit einer Botschaft auf: »All you need is love«.
Zeitzeuge Kolja aus Leningrad erinnert sich: »Meine Mutter dachte, mit mir wäre etwas nicht in Ordnung, und schickte mich in eine psychiatrische Klinik.« Lydia ergänzt: »Unsere pure Existenz ärgerte das System. Man wollte uns weghaben, solche fremden Elemente sollten hier nicht sein. Eine Person mit Bart war schon ein Ärgernis, aber eine Person mit Bart und langen Haaren war noch nicht mal eine Person.« Sich gegen eine ganze durchnormierte Gesellschaft zu stellen, hieß, ungeheuren Mut zu beweisen. Denn Gewalt wurde nicht nur von der Polizei verübt: »Wenn du auf die Straße gingst, war das jedes Mal, als gingest du in den Krieg.«
Als die Hippies das Trampen entdeckten, bemerkten sie, dass es Gleichgesinnte in allen größeren Städten der Sowjetunion gab und bildeten eine Art informelles Netzwerk. 1971 planten sie eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg vor der US-Botschaft in Moskau, und fragten um behördliche Genehmigung. Die bekamen sie, aber die Demonstration endete mit der Verhaftung von etwa 3000 Leuten. Studenten wurden relegiert, andere verloren ihre Arbeit, einige Teilnehmer begingen aus Verzweiflung Selbstmord. Die Bewegung wurde in den Untergrund gedrängt, und sie wurde politischer. Als sich Ronas Kalanta 1972 in Kaunas öffentlich verbrannte und der KGB versuchte, das Begräbnis zu stören, kam es zum Aufstand, der erst nach einigen Tagen durch das Militär unter Kontrolle gebracht werden konnte. Der Bevölkerung wurde eingeredet, das Peace-Zeichen sei so eine Art Hakenkreuz und die Hippies seien Faschisten.
Der Staat erlangte die Kontrolle wieder, aber um welchen Preis: Die Kommunistische Partei hatte ihren progressiven Anspruch aufgegeben und die Gestaltungsmacht an den militärisch-industriellen Komplex verloren. Die Breshnew-Ära war die Zeit der politischen Apathie und Verwaltung des Status Quo, die bis heute tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen hat. Der Gorbatschow’sche Reformversuch versandete schlichtweg, das Ergebnis ist bekannt. Die Militärbürokratie indes sitzt wieder fest im Sattel.
Die alten Hippies treffen sich jedes Jahr am ersten Juni im Zarinnenpark, zur Erinnerung an die Ereignisse von 1971. Auffallend junge Menschen sind bei ihnen. Eine junge Frau: »Wir haben zum Schein Demokratie und mehr Freiheit. Deshalb ist es schwieriger, in dieser imaginären Freiheit die wahre Freiheit zu erkennen.« Am Abend ertönen Polizeisirenen, Milizionäre in Kampfuniformen erklären den Park für geschlossen.
Der Film »Soviet Hippies« wird begleitet von einer Kurzfilmreihe auf Arte über die Nachfolger der Hippies von einst: Kommunarden, Wehrdienstverweigerer, Ökobauern, engagierte Künstler. Man wünschte sich, dass diese Kombination einem breiterem Publikum einen Blick auf das andere Russland eröffnet, in dem das System nicht hingenommen, sondern mit Tschernyschewski die alte Frage gestellt wird: »Was tun?«
»Soviet Hippies« ist bis zum 17. Dezember, »Alternative Russia« bis auf Weiteres verfügbar auf arte.tv.
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