Das innere Tempo
»Versetzung« - Das Deutsche Theater zeigt Thomas Melles Stück über die bipolare Störung eines Lehrers
Blicken wir in die Psyche, um nicht gleich von der Seele zu sprechen. Auch hier ist alles eine Frage der Zeit. Manchmal schleicht sie, bleibt fast stehen, manchmal rast sie. Wenn die Verlangsamung übermächtig wird, entsteht eine Depression, wenn die Beschleunigung dominiert, eine Manie. Schwermut im fließenden Übergang zur Depression kennt fast jeder, manchmal dauert die Dunkelheit im Kopf nur Tage, manchmal Monate. Dauerhaft, so die gute Botschaft, ist sie jedoch nicht. Die Manie dagegen scheint eine viel unwägbarere, weitaus gefährlichere Angelegenheit.
Die eigene Geschichte, die Thomas Melle in seinem Roman »Die Welt im Rücken« erzählte, ist der Hintergrund dieses Auftragswerks für das Deutsche Theater. Die einer falsch gehenden inneren Uhr, einer manisch-depressiven Erkrankung, auch bipolare Störung genannt. Während die Depression als Melancholie die Welt im Dunkel-Licht zeigt, zucken durch die Manie lauter grelle Lichtblitze. Bei Platon ist die »Mania« ein Wahn, der nicht nur die Möglichkeit des Wahnsinns in sich birgt, sondern auch höchste geistige Produktivität verspricht. Aus welchen Abgründen schöpft der Geist - und in welche Gefahren bringt er uns in unserem ganz normalen Alltag, zumal mit anderen Menschen?
Ronald ist Lehrer an einem Gymnasium. Auffällig an ihm ist nichts, er scheint beliebt bei Schülern und Kollegen, fast schon charismatisch. Gleich am Anfang dieser Inszenierung von Brit Bartkowiak steht Ronald (erst gedämpft, dann explosiv: Daniel Hoevels) vorm Eisernen Vorhang und doziert zehn Minuten lang in eine imaginäre Klasse hinein über Schimpfworte, die auf den zurückfallen, der sie benutzt. Er spricht über unseren fließenden Begriff von Normalität. Es klingt sehr pädagogisch-abgeklärt, irgendwie auch wattig. Wird das hier ein Rollenspiel in aufklärender Absicht? Kein Wunder, dass jemand wie Leon (Caner Sunar), ein Außenseiter unter den Schülern am Gymnasium, einer mit Ecken und Kanten, diesem Ronald trotz all der schönen Worte durchaus misstraut. Diese Worte entsprechen nicht seiner Realitätserfahrung.
Doch dann ändert sich auch für Ronald die Realität. Eigentlich könnte alles positiv sein, denn er soll neuer Direktor des Gymnasiums werden, der alte Direktor Schütz (Helmut Mooshammer) hat ihn vorgeschlagen. Ein Grund zur Freude? Für Ronald eher zur Sorge. Denn einige Kollegen schauen missgünstig auf Ronald; vor allem der Physiklehrer Falckenstein (stark mit Kurzhaarfrisur und Aktentasche: Christoph Franken) will den Direktorenposten für sich. Ronald hat Angst: Wenn bloß jetzt nicht seine Vergangenheit publik wird, seine bipolare Störung, nach zehn Jahren ohne Symptome. Keine manischen Schübe, keine Vorfälle. Aber es gibt noch Leute, die sich daran erinnern - und auch ein Band Krankheitsgedichte hat sich erhalten, die er als junger Germanist damals schrieb, Protokolle der Zeitbeschleunigung - bis hin zum Blackout?
Seine Konkurrenten haben jetzt Munition. Ist ein psychisch Gestörter geeignet, eine Schule zu leiten? Ronalds Frau Kathleen (intensiv-weiblich: Anja Schneider) erwartet ein Kind und will nicht an Konflikte glauben. Aber sie sind da, der Druck wächst - und plötzlich ist auch die Manie wieder da. Der Grat, den wir Normalität nennen, erweist sich als schmal. In diesem Falle als zu schmal. Die Raum-Zeit-Koordinaten nur um ein weniges verschoben - und schon ist die Balance der Zeit gestört. In Ronald beginnt es zu rasen.
Bis jetzt hat die Inszenierung im Bühnenbild von Johanna Pfau (ein blaues Quadrat samt Aquarium) selbst etwas vom behäbigen Gang des Schulalltags. Vorhersehbar bewegt sich der Abend auf den Punkt zu, wo die bürgerliche Konstruktion von Normalität zusammenbricht. Leon, der Schüler jenseits der Norm, ist längst von der Schule geflogen und wird nun Tischler. »Kann jemand hier einen Tisch bauen von euch Klugschwätzern?«, ruft er selbstbewusst, denn er hat für sich den Begriff der Normalität neu definiert: »Es ist nicht leicht, seinen Platz zu finden, weder zu low noch zu weit oben, einfach so, dass es passt.« Für Ronald jedoch, der längst glaubte, seinen Platz gefunden zu haben, passt plötzlich nichts mehr zusammen.
Und jetzt gelingt dem Abend doch noch der Sprung ins Unvorhersehbare. Durch Daniel Hoevels geht ein Ruck, oder eher: Es zieht sich ein Riss. Sein Ich, oder das, was es vorstellte, ist zerbrochen. Dieses Zerbrechen hat Melle mit der Präzision eines Betroffenen protokolliert. Ronald hört plötzlich Sätze, die nicht gesagt wurden, aber hätten gesagt werden können. Ronald ist von einer irritierenden Hellhörigkeit ergriffen. In seinem Mund bilden sich - fast ohne sein Zutun - Wortassoziationsketten, die explosionsartig aus ihm herausschießen.
Er ist plötzlich jenseits der Norm, ein Störfall des Betriebs, ein Ärgernis, das man loswerden will. Und so landet er statt auf dem Direktorensessel als Arbeitsloser vor der Tür. Seine ach so positive Frau trennt sich von ihm, diese dauernde Übertourtheit, die Nähe der Manie zur permanenten Panik, hält sie nicht aus. Und ihr Kind soll doch in einer gesunden Umgebung groß werden! Ronald ist nun allein mit seiner Krankheit, die ihn stigmatisiert. Kein anständiger Krebs oder seriöser Herzinfarkt, sondern was mit den Nerven.
Wie real ist die Welt, in der wir leben? Gibt es jenseits unserer Wahrnehmung der Realität noch eine andere, die wir nicht wahrnehmen, die aber unsere Existenz bestimmt? Ronald hat es erfahren, aber was kann er mit dieser Erfahrung anfangen, wer hört ihm noch zu, wenn er es ausspricht: »Wir sind Kippfiguren. Der Hintergrund wird beständig zum Vordergrund und umgekehrt. Die Positionen sind ständig in Bewegung, auch wenn alles für immer festzustehen scheint, aus der Starre des Augenblicks heraus oder der Lähmung eines dunklen Jahres. Das braucht Zeit. Hab Geduld mit dir, lass es zu.«
Das gehört zu den existenziellen Einsichten, nicht jenem Wissen, das uns im Konkurrenzkampf mit fremden Egos als Waffe dienen kann. Wir schöpfen immer nur aus dem Chaos in uns - bringen es tagtäglich neu in eine Form, damit es uns nicht verschlingt. Eine Frage des Zeit-Rhythmus, der Lebensbalance.
Nächste Vorstellungen: 4., 14. Dezember
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.