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Die Rückeroberung der Zukunft

Über Albträume und die drohende Apokalypse - und warum eine Revolution der Verhältnisse notwendig ist

  • Milo Rau
  • Lesedauer: 10 Min.

Die letzten zwei Wochen bin ich mit meinem aktuellen Film »Das Kongo Tribunal« - die Dokumentation eines zivilgesellschaftlichen Tribunals, das wir im ostkongolesischen Bürgerkriegsgebiet gegen die lokale Regierung, die UNO, die Weltbank und die großen multinationalen Rohstoffkonzerne durchgeführt haben - durch Deutschland, die Schweiz und Belgien gereist ... Ich schau mir also jeden Abend von Neuem meinen Film über die kongolesische Minenindustrie an, und vermutlich geht es den meisten Regisseuren so: Der interessanteste Teil beginnt nach den Vorstellungen, nämlich wenn die Debatte mit den Zuschauerinnen und Zuschauern losgeht. Als wir den Film im Juli im Ostkongo in den Bürgerkriegsstädten und Minendörfern zeigten, überreichten die Zuschauer unseren Untersuchungsrichtern und mir Beweisfotos und schriftliche Zeugenaussagen, sie berichteten vom weiteren Verlauf der Wirtschaftsverbrechen und Massaker, die wir in unserem Film dargestellt hatten - oder von ganz anderen Fällen, deren wir uns annehmen sollten. Denn seit 1996 sind im dortigen Bürgerkrieg, der in Wahrheit ein Krieg um das in der ostkongolesischen Erde liegende Coltan und Gold ist, mehr als sieben Millionen Menschen gestorben …

Wenn wir unseren Film in Hamburg, in Berlin, in Brüssel, in Zürich oder in Genf vorführen, geschieht Vergleichbares. Die Zuschauer erzählen von ähnlichen Fällen, fast jede Schweizer, belgische, deutsche Firma ist in ein Verbrechen gleichen oder größeren Maßstabs verwickelt wie die zwei Firmen, die wir in dem Film porträtieren. Da fallen Namen wie Monsanto, Glencore, VW, KiK, und je länger man zuhört, desto stärker wird das Gefühl, dass wir alle in einem Albtraum leben, nur eben bei vollem Bewusstsein ...

Der Kongress

»Dialektik der Befreiung« war ein internationaler Kongress getitelt, der vom 24. bis 26. November im Wiener Theater Odeon stattfand.

Er knüpfte thematisch an den vor 50 Jahren in London durchgeführten gleichnamigen Kongress an, der von den Antipsychiatern Ronald D. Laing und David Cooper organisiert worden war und auf dem als Stargast der Philosoph der repressiven Toleranz, Herbert Marcuse, begrüßt wurde. Bei der damaligen wie bei der jetzigen Veranstaltung ging es um aktuelle gesellschaftliche Probleme wie Freiheit und Kontrolle, Imperialismus, Faschismus, Populismus sowie Kolonialismus und Neokolonialismus, um die Wohlstands- und Überflussgesellschaft, Ausbeutungsmechanismen und die Reproduktion von Ungleichheit, die Diskreditierung von gesellschaftlichen Alternativen, Macht und Ohnmacht, Widerstand, Kritik und Affirmation, Idiotie und Intellekt.

In Wien referierten unter anderen der Frankfurter Philosoph Thomas Seibert und Isabel Lorey, Professorin für transnationale Genderpolitik an der Universität Kassel, Felix Ensslin, Professor für Ästhetik und Philosophie an der Stuttgarter Akademie der Künste, sowie Stephan Lessenich, der Soziologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München lehrt. Kuratiert wurde der Kongress von den Publizisten Karl-Heinz Dellwo und Ilja Trojanow sowie Walter Famler vom Wiener Kunstverein »Alte Schmiede«. Die Eröffnungsrede hielt Milo Rau, Jahrgang 1977. Wir veröffentlichen sie hier mit freundlicher Genehmigung des Schweizer Regisseurs und Theaterautors inAuszügen veröffentlicht.

Der Albtraum, von dem ich spreche, hat es an sich, dass er sich nicht nur in die Vergangenheit erstreckt, wie die üblichen Albträume, von denen man in der Schule hört, sondern auch in die Zukunft. Lassen Sie mich das erklären: Um im Ostkongo eine Mine zu öffnen - also von der Entdeckung der Mine bis zu jenem Tag, an dem der Abbau mit allen Maschinen, Belüftungsanlagen, Unterkünften, Versorgungsketten usw. losgehen kann - vergehen im Schnitt zwölf Jahre. Der finanzielle Aufwand dafür beträgt mehrere Milliarden Dollar, Kosten, die sich wegen des Bürgerkriegs oft zu einem Mehrfachen multiplizieren. Zum einen schränken diese Summen die Mitbewerber auf wenige europäische und nordamerikanische Firmen ein - im ostkongolesischen Minensektor gibt es beispielsweise nur eine einzige Firma, die Gold abbaut: die kanadische Firma BANRO, die in »Das Kongo Tribunal« im Zentrum steht. Der Neoliberalismus, einst angetreten gegen staatliche Monopole, gefeiert als der große Befreier, verhasst als der große Deregulierer - denn aus der Zerschlagung der kongolesischen Minenindustrie durch die Weltbank in den 1980ern ist BANRO, eine Investmentfirma, überhaupt erst ins Goldgeschäft gekommen -, der Neoliberalismus also steht heute nicht mehr für den freien Wettbewerb, sondern meint ein fast absurd monopolistisches System, das an die mittelalterliche Kirche erinnert. Ein Wirtschaftssystem, das nicht nur von den Milizen lokaler Regierungen, sondern auch von den Regulierungs- und schließlich Ethikgesetzen europäischer und amerikanischer Parlamente gestützt wird, die mit absurden Auflagen die lokalen Produzenten in die Illegalität stoßen. Im Fall des 2010 vom amerikanischen Kongress verabschiedeten Dodd-Frank Act, eines Regulierungsgesetzes, das Kinderarbeit, die Arbeit von schwangeren Frauen etc. in kongolesischen Minen untersagte, verloren geschätzte zwei bis fünf Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Job in den Minen - denn die Mehrheit der arbeitenden kongolesischen Bevölkerung ist unter 18 Jahre alt, die meisten jungen Frauen sind fast ständig schwanger ...

Realismus - realistische Politik, realistische Kunst - kann also nur sein: jenen Stimmen zu lauschen, die Bescheid wissen - und damit die eigene Sicht der Dinge in Bewegung zu bringen. Was uns aus der Entfernung, eingeschlossen in unsere eigenen Logiken, richtig erscheint, ist oft komplett falsch. Die Gegenwart hat es an sich, den Zeitgenossen zwingend, ja hermetisch zu erscheinen, insbesondere in der heutigen Welt, in der alles, könnte man sagen, »vorbestimmt«, da auf Profit getaktet ist ...

Die Gegenwart ist zum einen, wie der britisch-indische Intellektuelle Pankaj Mishra sagt, universalisiert. Wir befinden uns in einem einzigen Weltinnenraum, es gibt keinen Westen und keinen Osten, keinen Norden und keinen Süden, kein Außen mehr, alles ist verkoppelt in einem einzigen ökonomischen Zusammenhang. Und wenn in Toronto der Goldpreis um fünf Prozent fällt, verlieren im Ostkongo 10 000 Schürfer ihren Job. Zum anderen ist unser Handeln komplett auf die Zukunft hin getaktet, oder anders ausgedrückt: Die Gegenwart, der ganze Glanz unserer Tage, der Alltag und letztlich der Sinn des Lebens von Milliarden von Menschen und Billiarden von anderen Lebewesen ist im Zeitalter des Finanzkapitalismus nur noch ein Übergangsraum, in dem die Zukunft sich zu realisieren hat. Denn die Zukunft ist verkauft, bevor sie stattgefunden hat - unsere, die Aufgabe der Zivilgesellschaft ist es, sie zurückzuerobern.

Wie ist es aber möglich, aus diesem sozialdarwinistischen Albtraum auszubrechen: aus diesem Albtraum, der mit dem Anspruch der Befreiung angetreten ist, heute aber derart irrational geworden ist, dass er zum Nutzen der Wenigsten und zum Leid der absoluten Mehrheit funktioniert. Aus einem Albtraum, der für uns alle tödlich enden wird, jedenfalls mit einer ökologischen und gesellschaftlichen Katastrophe bisher unbekannten Ausmaßes - für uns alle deshalb, weil die Menschheit eine Schicksalsgemeinschaft ist und weder das Klima noch die Weltwirtschaft Grenzen kennen. Es ist, als würde ein Meteor auf die Erde zurasen: Aber anstatt sich um Lösungen zu kümmern, sprechen wir darüber, ob es diesen Meteor wirklich gibt - und falls ja: wer dafür zuständig ist, wer wie über den Meteor reden darf und wie diejenigen, die darüber reden dürfen, gewählt werden sollen ...

Wie ist diese Erstarrung zu erklären? ... Warum tanzen wir nicht im Kreis vor Verzweiflung, wenn die Insekten verschwinden: »Wenn die Biene einmal von der Erde verschwindet, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben. Keine Bienen mehr, keine Bestäubung mehr, keine Pflanzen mehr, keine Tiere mehr, kein Mensch mehr«, soll Albert Einstein gesagt haben. Es ist aber, als würden wir gelähmt vor all diesen apokalyptischen Bildern sitzen, in denen das Böse gut, die Lüge unterhaltend, das Katastrophale normal erscheint. Es ist wie in dem berühmten Ölbild von Pieter Brueghel, das er 1556 malte, nicht lange nach den großen Bauernkriegen: Weit im Hintergrund stürzt Ikarus ins Meer, kaum sichtbar, während vorne ein Pflüger völlig unbeirrt seiner Arbeit nachgeht. Symbol einer Gegenwart, die, gerade weil mythische Katastrophen in ihr stattfinden, von einer fast absurden Stille, einem ewigen Frieden erfüllt scheint.

Der einzige Weg aber, aus der Totalität der Jetztzeit auszubrechen, ist, sie aus einiger Entfernung zu betrachten. Gleichsam aus der Zukunft, mit dem utopischen Auge auf sich selbst zurückzublicken - oder, anders herum, in der Vergangenheit nach vergleichbaren Momenten, nach genauso absurden, albtraumartigen Epochenbrüchen zu suchen. Denn am Beginn jeder Revolution steht eine, sagen wir, anti-narzisstische Spiegelung, eine Spiegelung nämlich des Eigenen im völlig fremd Gewordenen, im Vergangenen, im Gescheiterten. Vor ein paar Tagen erreichte mich per Mail der Vorschlag eines deutschen Produzenten: Ich solle doch, schrieb er, ein Drehbuch über den Reformator und Sozialrevolutionär Thomas Müntzer verfilmen, ein Mitstreiter des sehr viel berühmteren Martin Luther zuerst, und später, als das Volk die Forderungen Luthers nach der Befreiung vom Joch der katholischen Kirche, von fürstlicher Bevormundung zur Realität machen wollte, sein Widersacher.

Thomas Müntzer und die Bauern wollten auf Luthers Reformation der Kirche eine Revolution der sozialen Beziehungen folgen lassen ... Über Hunderttausend Menschen fanden bei den Strafaktionen, die auf den kurzen Frühling der Anarchie 1525 folgten, den Tod. Die Landsknechte zogen durch die Dörfer, hackten den Bauern Füße und Hände ab, blendeten und vergewaltigten - völlig wahllos, genüsslich, sadistisch, mit jenem entfesselten Anarchismus der Macht, die Pier Paolo Pasolin in seinen »120 Tagen von Sodom« so eingehend beschrieben hat. Müntzer selbst wurde tagelang gefoltert und schließlich enthauptet, sein Kopf und Körper wurden aufgespießt und ausgestellt - ein Massaker, das Brueghel auf einem anderen Bild und mit vergleichbarer Gleichgültigkeit wie im »Ikarus« dargestellt hat ...

Wer sich tatsächlich auflehnt gegen die Welt, der ist ein gefährlicher Wahnsinniger, ein »tollwütiger Hund«, wie Luther sagte, ein »Terrorist«, wie Assad und Putin sagen würden, im besten Fall aber ein Narr. Ich habe mir, auf meiner Tour durch die Premierenstädte des »Kongo Tribunals«, die Kritiken der bürgerlichen Blätter durchgelesen. Da heißt es, wir seien »Weltenretter«, unser Unterfangen, einen Weltwirtschaftsgerichtshof zu schaffen, sei »eitel«, »gefährlich«, ja »utopisch«, »irrational« und »megaloman«. Ebenso hieß es über unser Weltparlament: Größenwahnsinn, gekoppelt mit Eitelkeit und einer Prise stalinistischer Allmachtsfantasie. Aber welche Megalomanie, welche Utopie, welche Eitelkeit und Allmachtsfantasie kann diese unfassbare, allumfassende Utopie des Kapitals, die ganze Weltgegenden und den Planeten überhaupt auf Jahrzehnte, auf Jahrhunderte hinaus verkauft hat, parieren? Müssen wir Intellektuellen, wir Künstler nicht erst einmal auf die Höhe der Irrationalität, ja: der Tödlichkeit unserer Zeit kommen, um wirklich realistisch zu sein? Wie viel Energie und Verrücktheit braucht es, um aus dem Traum des Kapitals zu erwachen - den nicht nur die Herrschenden, sondern auch die Unterworfenen träumen? Ein Bericht über die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin beginnt mit den rhetorischen Worten: Wie konnte sie das tun? Revolte, grundsätzliche Revolte, erscheint heute als Wahnsinn. Ihr Scheitern aber als Beweis der Sinnlosigkeit von Widerstand überhaupt.

Womit wir bei dem Punkt wären, um den es mir hier geht: Lassen Sie uns Wahnsinnige, lassen Sie uns Narren sein. Denn nur Narren sind heute noch realistisch, da sie keinen Unterschied kennen zwischen dem, was sie wissen, und dem, was sie tun. Denn es kommt nicht darauf an, was wir wissen; es kommt darauf an, was wir tun - es kommt darauf an, die Verbindung zwischen Theorie und Praxis wiederherzustellen.

Womit wir zur guten alten Frage nach dem revolutionären Subjekt kommen. Oder anders ausgedrückt: Wenn es also nötig ist, wieder die Kontrolle über diese in einem Albtraum gefangene Welt zu erlangen - wer kann das tun, wie und mit welchen Mitteln? ... Ich denke, wir müssen anfangen, die lokalen und die globalen Kämpfe wieder zusammen zu denken, sie zusammen zu führen, in all ihrer Widersprüchlichkeit. Wir müssen die mühsame Arbeit des konkreten Universalismus tun, Schritt für Schritt. Was wir brauchen, ist eine Ästhetik, aber auch eine Politik der globalen Demokratie, die über den lutheranisch-marcusischen Menschen hinausdenkt - die eben gerade nicht die Befreiung der einen auf Kosten der anderen, sondern die Solidarität aller in der Erkenntnis der geteilten Unfreiheit sucht. Anders ausgedrückt: Wir müssen es uns wieder zutrauen, uns selbst zu ermächtigen, wir müssen von der Immanenz wieder zur Transzendenz kommen, von der Psychopolitik zur Realpolitik, von der Reformation zur Revolution. Aus der Praxis des Widerstandes, des Protestes und der ästhetischen Reflexion muss ein neues revolutionäres Subjekt geboren werden ...

Und damit komme ich so langsam zum Ende, nämlich zu einem Entwurf dessen, was ich eine solidarische Befreiung nennen würde ... - und das ist es, wozu ich hier aufrufe: zur Revolution der menschlichen Beziehungen, der sozialen Institutionen, der globalen Marktwirtschaft ... Doch täuschen wir uns nicht: Die Revolution ist kein Ort des Konsenses - und wird es auch nie werden ...

Wir müssen unsere Augen auf die Katastrophen heften, die hinter uns liegen - und auf die Katastrophen, deren Zeugen wir sind. Denn das Schreckliche ist nicht geschehen, es geschieht jetzt, es ist dabei zu geschehen. Wir treten ein in ein Zeitalter der Katastrophen: der humanen, der ökologischen und schließlich der philosophischen Katastrophen. Wir häufen Trümmer auf Trümmer. Es ist Zeit, die Perspektive zu verändern. Wir brauchen ein Engagement, das dem Pessimismus des Verstands, wie der Philosoph Antonio Gramsci sagt, den Optimismus des Willens entgegensetzt. Damit der Engel der Geschichte seine ohnmächtig aufgespannten Flügel wieder zum Fliegen verwenden kann, damit er vom Zuschauer wieder zum Akteur werden kann. Damit er seine weit aufgerissenen Augen von der Vergangenheit wieder auf die Zukunft richtet. Damit der abgestürzte Ikarus wieder aufsteigen kann.

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