Paris an der Spree

Das Radialsystem entdeckte die französische Romantik

  • Antje Rößler
  • Lesedauer: 3 Min.

Im Saal stehen Palmen und ein Billardtisch, große Fotos bieten Ausblicke auf Parkanlagen unter südlicher Sonne. Man wähnt sich in einem französischen Salon - doch der neblige Fluss vor den Fenstern ist die Spree. Im Radialsystem, dem einstigen Abwasserpumpwerk am Flussufer, gastierte am Wochenende der Palazzetto Bru Zane mit seinem ersten Festival auf deutschem Boden. Die Institution widmet sich der französischen Musik des »langen« 19. Jahrhunderts zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg.

»Wir forschen, organisieren Konzerte, veröffentlichen Partituren, Bücher und CDs«, sagt Alexandre Dratwicki, musikwissenschaftlicher Leiter von Bru Zane. »Die französische Romantik ist weitgehend unbekannt und gilt als altmodisch - sogar unter Franzosen. Sie muss daher beworben werden.« Das geschieht europaweit von Venedig aus, wo Bru Zane in einem Palazzetto, einem Palästchen aus dem 17. Jahrhundert, residiert.

Im Radialsystem präsentierten vier Konzerte die Bandbreite des französischen 19. Jahrhunderts: Streichquartett, Recitals von Harfe und Klavier, Operette und Chanson. Den Auftakt machte am Freitag das Mandelring-Quartett, das in seinem Heimatstädtchen an der Pfälzischen Weinstraße durchaus im Dunstkreis Frankreichs lebt. Das Ensemble stellte gleichsam eine kleine Geschichte des französischen Streichquartetts vor: vom Beethoven-Zeitgenossen George Onslow über Debussy und Ravel bis zu Fernand de la Tombelle.

Der Abend offenbarte den Rangunterschied zwischen den Genies und ihren unbekannten Zeitgenossen, die zudem der Musikgeschichte hoffnungslos hinterherhinkten. So hätte man Tombelles melodienseliges Quartett von 1897 gut und gerne ein halbes Jahrhundert früher angesiedelt. Und Onslows aparte Variationen über »God Save the Queen« bieten gegenüber Haydns »Kaiser«-Quartett nichts Neues. Ungeachtet dessen macht es jederzeit Freude, das souveräne Mandelring-Quartett zu hören. Die drei Schmidt-Geschwister und Bratscher Andreas Willwohl vermieden in ihrem präzisen, ausdrucksintensiven Spiel jeden Hauch von Sentimentalität.

Am Samstag präsentierte Bru Zane die Harfe als das »französische« Instrument schlechthin. Es spielte Emmanuel Ceysson, Soloharfenist an der Pariser Oper und der Met in New York. »Bei Schumann oder Brahms finden Sie keine Harfe im Orchester«, erläutert Dratwicki. »Aber in Frankreich ist die Harfe seit Hector Berlioz in Oper und Sinfonie nicht wegzudenken. Berühmte Komponisten schrieben für dieses Instrument.«

Höhepunkt des Festivals war ein »Café-Concert« am Samstag. »Im Café-Concert, das zwischen 1850 und 1950 populär war, erklangen Chansons mit unmissverständlichen, an Pornographie grenzenden Texten«, erklärt Dratwicki, der zu einer Veranstaltung unter dem Baudelaire verballhornenden Titel »Les Fleurs du mâle«, »Die Blüten der Männlichkeit«, einlud. Zwei Sängerinnen wickeln hier das Publikum um den Finger: erstens Norma Nahoun mit klarem, hellem Sopran; Typ kokette Soubrette oder auch schmachtender Liebhaber in der Hosenrolle. Zweitens Marie Gautrot, deren warmer Mezzo wie ein Glas Spätburgunder leuchtet; Typ dramatische Diva.

Mademoiselle Gautrot bekam begeisterten Beifall, da sie auf der Bühne einen Schwächeanfall erlitt und den Auftritt eine halbe Stunde später mit voller Stimmkraft fortsetzte. Viel mehr als diese Unterbrechung störten zwei angeschickerte Frauen im Publikum, die ununterbrochen schwatzten und kicherten.

Die beiden Sängerinnen machten das Beste aus den schlichten Strophenliedern im Dreiertakt, in den sich hin und wieder Jazzsynkopen mischen. Die Texte sprechen freizügig von »Lutschlutsch und Ratatatam« oder »Orangen im Regal«. Mal trägt die Schöne nichts unterm Trenchcoat; dann wieder lässt sie sich vom Liebhaber beißen und kratzen.

In Victoria Duhamels kurzweiliger szenischer Einrichtung bleibt der Erotikfaktor zwar gering, doch die Sängerinnen bezaubern mit augenzwinkernder Spielfreude. Sie wurden stimmungsvoll begleitet von der Cellistin Pauline Buet, die im Chanson »La Violoncelliste« mit ihren gespreizten Beinen selbst zum Objekt der Begierde wird, und von dem Pianisten David Violi, der mit Hosenträgern und Pünktchen-Söckchen den Vogel abschießt.

Fazit: Die französische Romantik ist eine Wiederentdeckung wert. Schön, dass der Palazzetto Bru Zane sein Berliner Festival fortan jährlich veranstalten will.

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