Die Macht des Ursprungs

Orhan Pamuk erzählt in »Die rothaarige Frau« eine türkische Version der antiken Ödipus-Saga

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 4 Min.

Sein Vater, erzählt Cem in Orhan Pamuks Roman »Die rothaarige Frau«, hatte in Istanbul in den 1970er Jahren eine Apotheke. Immer wenn er Nachtdienst hatte, traf er sich dort mit seinen linken politischen Freunden. In den Jahren nach dem Militärputsch 1980 wurde er mehrmals verhaftet. Doch nicht jedes Mal, wenn er weg war, saß er im Gefängnis. An der Stimmung seiner Mutter konnte Cem immer ablesen, ob es nicht doch wieder eine Frauengeschichte war. Irgendwann zog sein Vater dann endgültig von zu Hause aus.

Als Cem mit der Schule fertig ist, arbeitet er einen Sommer lang als Assistent eines Brunnenbauers, um die Vorbereitungsschule auf die Universitätsprüfung zu finanzieren. In einem kleinen Dorf, dreißig Kilometer außerhalb von Istanbul soll Meister Mahmut für eine Textilfabrik einen Brunnen graben. Bereits bei der Frage, wo auf dem Gelände Wasser zu erwarten sei, wird deutlich, dass der ältere Mann zu einer Art Ersatzvater für Cem wird. »Wenn mein Vater etwas wichtiges unternahm, fragte er mich nie nach seiner Meinung dazu«, sagt er, »denn wegen seiner politischen Aktivitäten neigte er zur Geheimniskrämerei«. Meister Mahmut dagegen hatte ihm immerhin mitgeteilt, wo sie anfangen sollten zu graben, und warum er dort Wasser vermutete, »und dafür war ich ihm dankbar«.

Während der Meister in der Tiefe den Brunnen gräbt, muss Cem die mit Erde gefüllten Eimer zusammen mit einem weiteren Gehilfen über eine Seilwinde heraufholen. Die Arbeit ist hart, und die Sonne brennt unerbittlich vom Himmel. Nach getaner Arbeit gehen alle drei ins Dorf. Eines Abends sieht Cem eine rothaarige Frau, eine Schauspielerin, die in einem Theaterzelt auftritt, und die eine wichtige Rolle in Cems Leben spielen wird. Er verliebt sich in sie und stellt ihr heimlich nach. Auf dem Weg zurück zum Brunnen versucht er sich über seine Gefühle klar zu werden. Cem will später Schriftsteller werden. »Beim Schreiben würde ich denken und all die Bilder und Gefühle, die ich nicht in den Griff bekam, geduldig in Worte fassen.«

Es ist diese Geduld, die Orhan Pamuks Romane auszeichnet. Indem er in aller Ruhe eine Geschichte erzählt, hat man als Leser das Gefühl, als hielte er die Zeit an. In »Die rothaarige Frau« erzählt er auf diese Weise von der großen Schuld, die Cem auf sich lädt, der er sich aber nicht stellt. Er erzählt, dass er später doch nicht Schriftsteller wird, sondern Geologe. Man erfährt, wie Cem seine Frau Ayşe kennenlernt, den beiden jedoch Kinder versagt bleiben. Und wie sie dann, im Boom der 1990er Jahre, in Istanbul eine erfolgreiche Immobilienfirma aufbauen.

Orhan Pamuk verknüpft diese einfach daherkommende Geschichte kunstvoll mit Mythen und Legenden zu einem komplexen erzählerischen Geflecht. An einem der langen Abenden, die Cem mit Meister Mahmut vor ihrem Zelt saß, erzählt er ihm den Mythos von Ödipus, der unwissentlich seinen Vater tötet und mit seiner Mutter schläft. Später sieht er dann bei einem Freund, den er in Teheran besucht, ein Bild von Rostam, dem Helden des persischen Nationalepos »Šāhnāme«, wie er unwissentlich seinen Sohn Sohrab tötet. Cem und Ayşe beginnt die Geschichte von Ödipus und von Rostam und Sohrab so sehr zu faszinieren, dass sie auf der Suche nach einer alten Abbildung der Legende durch ganz Europa reisen.

»Die rothaarige Frau« ist ein Roman, der von der Macht des Ursprungs erzählt, des Ursprungs von Vater und Mutter. Und der von der Schuld und deren Verdrängung handelt. Orhan Pamuk gelingt es dabei, eine realistische Geschichte glaubwürdig zu erzählen und sich gleichzeitig mit der Macht dieses Ursprungs, wie er sich in Mythen und Legenden ausgedrückt, auseinanderzusetzen. Wobei am Ende dieses spannenden Romans sich noch einmal alles wendet, so, wie man es nicht erwartet hätte.

Orhan Pamuk: Die rothaarige Frau. Roman. C. Hanser Verlag, 288 S., geb., 22 €.

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