Stoffbärchen für die Abgehängten

Im Münchener Westend kümmert sich Arbeitslosenseelsorger Mike Gallen um Menschen in Hartz IV

  • Rudolf Stumberger, München
  • Lesedauer: 4 Min.

Zur Weihnachtsfeier Mitte Dezember hatte Michele einen kleinen Brief geschrieben. »Friede in der Welt«, war da zu lesen und: »Schluss mit der Armut.« Beigelegt waren dem Brief an die 40 kleine Stoffbärchen, gefüllt mit Lavendel. Michele hat die Geschenke mit der Post an die Arbeitslosengruppe im Münchner Westend geschickt, früher war sie dort Mitglied. Heute lebt sie wieder in Frankreich. Gerichtet war das Päckchen mit dem Selbstgenähten an »Mike Gallen, Arbeitslosenseelsorger, St. Benenedikt«. Seit gut zwei Jahrzehnten ist der 62-Jährige Pastoralassistent hier in dem alten Arbeiterviertel tätig. Jetzt steht ein neues Jahr vor der Tür. Und er sagt: »Ja, ich finde schon, dass Hartz IV noch ein Thema ist.«

Zumindest am Mittwoch. Dann trifft sich die von Gallen betreute Arbeitslosengruppe in dem Kommunikationstreff an der Gollierstraße 61 des Pfarrverbandes München-Westend. Ein modernes Gebäude, ein sachlich eingerichteter Saal. Die Tische stehen in Hufeisenform, es ist 10 Uhr und zunächst gibt es Frühstück: Kaffee und Tee, kleine Wurst- und Käseplatten, Brötchen. Rund 30 Leute haben sich heute hier versammelt. Nach der Stärkung geht ein kleiner Korb herum, es geht um kleine Zugaben zum Frühstücksbuffet. Was folgt ist der Programmpunkt »Tipps und Tricks«. Dabei geht es ganz konkret um Hilfestellungen für das Leben unter Hartz IV. Also für Menschen, die nach einem Jahr Bezug von Arbeitslosengeld in die Langzeitarbeitslosigkeit gerutscht sind. Und jetzt mit 416 Euro im Monat auskommen müssen, hinzu kommen Miete und Heizung. »Tipps und Tricks«, da geht es dann etwa um den Münchner Gesundheitsladen, wo man sich Zähne ohne Zuzahlung richten lassen könne. Oder um Aushilfsjobs, Beratungsangebote.

Mike Gallen hat sein ebenerdiges Büro im Hof von St. Benedikt an der Schrenkstraße, gleich um die Ecke liegt die Augustiner-Brauerei. Wenn der gebürtige Neuseeländer sich um die Menschen in seiner Gruppe kümmert, dann geht es auch um gegensätzliche gesellschaftliche Entwicklungen. Da ist zum einen die Tatsache, dass die Wirtschaft brummt und die Arbeitslosigkeit in Bayern im vergangenen November mit 2,9 Prozent unter die Drei-Prozent-Marke gefallen ist, es herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Und trotzdem zählt man aktuell bundesweit an die acht Millionen Menschen, die auf die sogenannte Grundsicherung angewiesen sind. Und sechs Millionen davon sind Menschen in Hartz IV.

Und da ist zum zweiten die Tatsache, dass Mike Gallen seit 2006, als der erste Pressebericht über ihn erschien, in den Medien eine kleine Karriere hingelegt hat. Weil er der einzige amtlich bestellte Arbeitslosenseelsorger ist. Und weil ansonsten anscheinend niemand auf die Idee kommt, dass Menschen in einer derartigen Situation nicht nur materielle Unterstützung, sondern auch Zuspruch und Trost brauchen.

Und Mike Gallen kennt sie, die Schicksale hinter der Statistik. Die Menschen, die nicht fit genug für den »Zack-Zack-Arbeitsmarkt« sind, wie er es nennt. An denen die Vollbeschäftigung vorbeigeht. »Viele sind über 50«, sagt er, »und wenn sie in einer Krise stecken, können sie nicht mehr mithalten«. Krise, das kann vieles sein: Krankheit, Scheidung, Überschuldung. Und die Firmen, so seine Erfahrung, würden einen nicht mehr wie früher mittragen. Die andere große Gruppe, die prekär lebt, ist die der alleinerziehenden Mütter.

Manche in der Arbeitslosengruppe sind schon einige Jahre hier, andere sind neu. »Bei uns ist es wie in der Statistik« sagt Gallen, »die Hälfte der Hartz-IV-Bezieher sind schon mehr als vier Jahre dabei«. Da ist Gerd (60), der früher auf einem Postzug gearbeitet hat, dann in einer Recyclingfirma des Zweiten Arbeitsmarktes. Heute versucht er sich ein paar Euro zu verdienen, wenn in einer Firma die Inventur ansteht. Oder da ist Magdalena, 47 Jahre. Sie hat früher Übersetzungen gemacht, ging nach ihrer Entlassung aus dem festen Arbeitsverhältnis in die (prekäre) Selbstständigkeit. Mehr als ein Jahr lang hat sie einen neuen Job gesucht. Dann ging sie zurück nach Hessen zu ihrer Mutter und fand dort auch eine neue Stelle. Leider nur für kurze Zeit. Die Schicksale lassen sich beliebig verlängern: da ist der 53-jährige Diplominformatiker, den jede Absage auf eine Bewerbung deprimiert; da ist die 59-jährige Buchhalterin, die nicht mehr an die Zukunft denken will, da ist die 53-jährige Kaufmännische Angestellte, die von unbezahlten Rechnungen Magenschmerzen bekommt. Fast 270 000 Menschen gelten in München nach dem jüngsten Armutsbericht als arm (davon leben 75 000 von Hartz IV und 22 000 von ihnen schon länger als vier Jahre). Hier in St. Benedikt erhalten die Zahlen ein Gesicht.

Neben der Seelsorge geht es bei dem Arbeitslosentreff aber auch um Aktivierung - in eigener Sache. Viele der Arbeitslosen sind ehrenamtlich tätig. Im Dezember hat die Gruppe einen Stand in der Münchner Fußgängerzone organisiert, dabei ging es um den Tag der Menschenrechte. Und es trifft sich regelmäßig eine Theatergruppe, die mit gesellschaftskritischer Botschaft auch in der Öffentlichkeit auftritt. Die dahinterstehende Parole hatte der Mike Gallen schon vor ein paar Jahren ausgerufen: »Nicht nur deprimiert rumlaufen!«

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