Tugend und Terror

»In seiner frühen Kindheit ein Garten« von Christoph Hein am Staatsschauspiel Dresden

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.
Der junge Schauspieler am Bühnenrand öffnet den Mund zum Singen - aber so, als ginge es ihm nicht ums Lied, sondern ums Bild: vielleicht Munchs »Schrei«. Er singt Bach: »Komm süßer Tod«. Der kam, aber bitterst: Den Eltern starb ein Sohn, und so fällt der Satz, mit dem so schwer zu leben ist: Jeder »Tod vor der Zeit macht uns schuldig«. Ein Satz von Christoph Hein. Dessen Roman »In seiner frühen Kindheit ein Garten« brachte Friederike Heller am Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden in einer eigenen Fassung auf die Bühne (Raum und Kostüme: Sabine Kohlstedt).

Der Tod vor der Zeit. Es ist das Sterben des RAF-Terroristen Wolfgang Grams, der 1993 im mecklenburgischen Bad Kleinen durch Kopfschuss endete. Selbstmord, entschied der Staat. Auch ein Polizist wurde erschossen. Von Grams? Was folgte, war eine Wirrnis der vergeblichen Aufklärungsversuche, diverser politischer Rücktritte, hartnäckig bleibender Widersprüche. Der amtlichen Version vom Suizid stand ein Gutachten gegenüber, Grams sei von einem GSG-9-Mann regelrecht hingerichtet worden. Der Rechtsstaat ein Vertuschungsapparat?

Hein nennt Grams in seinem Roman Oliver Zurek und lässt dessen Vater Richard darum kämpfen, dem toten Sohn die Würde zurückzugeben. Der pensionierte Schuldirektor und seine Frau Rike: zwei Menschen in der Umklammerung durch Medien, öffentliches Gerede, behördliche Demütigung. Der Vater sitzt steif auf dem Stuhl. Regsamkeit ist ein Relikt, die ist spürbar nur noch, wenn er fahrig die Brille abnimmt, eine Haarsträhne zurück in die Ordnung schickt. Gepresste Lippen, aber doch eine weichzeichnerische Ausstrahlung, die das Elend offenbart: Kein Kleist’sches »Ich leb, ich breche durch!« findet hier statt, Zurek ist kein Kohlhaas, also selber kein Verbrecher wie jener; nein, hier wächst ein Kopfschmerz geradezu anständig tief ins Innere, und Hans-Werner Leupelt spielt mit einem präzisen Lakonismus, wie sich ein Mensch gegen die Revolte wehrt, die wie ein nicht zu hemmender Druck in ihm hochsteigt.

Das Bühnenbild zeigt einen braungetäfelten Kasten, Farben eines Amtszimmers, aber doch Wohnstube. Ein welthässlicher Warteraum. Gewartet wird auf Wahrheit, sie kommt nicht. Fensterlos heißt hier: aussichtslos. Die schmalen Schiebewände wird Richard später mit fiebrigem Eifer auf Fugendichtheit prüfen: Isolation als letzte Form der Selbstachtung. Ein Container der Fühl- und Leblosigkeit, im All geparkt. Höchstens, dass die Darsteller mal kurz in bewusst aufgesetztem Schwung herumtoben: Erinnerung an die Kindheit der drei Zurek-Kinder, Cowboy und Indianer, aufgesetzte Schüsse mit dem Colt - das Sterben: ein Spiel.

Mitunter stehen die vier Darsteller - während Zurek und seine Frau erstarrt auf ihren Stühlen hocken - links und rechts neben dem Wohnkasten, berichten vom Fortgang der Recherchen, jeweils in treibendem Für und Wider zwischen offizieller Tünche und fassadenkratzender Nachfrage. Die Aufführung verhält sich wie eine Zeugin, sie protokolliert Schritt für Schritt des Lehrers Weg in die Einsamkeit - eines tugendsamen Menschen, der im bislang demokratischsten aller deutschen Staatswesen etwas Seltsames will: Gerechtigkeit. Aber die Welt scheint für diese Sehnsucht wie betoniert. »Wo leben wir eigentlich?«

Aufreizend spröde erzählt Heller. Wie Hein auch. Gespräch und Schweigen. Einwurf und Anwurf. Ein Bericht davon, wie falsch Gericht gehalten wird. Ein Gericht darüber, wie falsche Berichte gefertigt werden. Das kühle Beobachten schafft Distanz, am Ende aber wird es genau diese Nüchternheit gewesen sein, die dem Geschehen seine große fragende Trauer gibt, seine inständige An-Klage. So gewinnt er rasch Kraft, dieser sperrige Realismus aus Knappheit und Mählichkeit. Hein hat diesem Richard Z. den Beruf eines Gymnasiallehrers gegeben. Ein Mann der Bücher und Lexika. »Aber Jahre wissen mehr als Bücher«, schrieb Lessing, und Zurek erfährt’s an sich selber. Justament ein Erzieher sitzt unversehens und heilsam in der Schule des Lebens.

Philipp Grimm ist der Bruder des toten Oliver, ein verzweifelt Eingeklemmter zwischen anarchischer Sehnsucht und quälend unpraktischer Veranlagung fürs familiär und beruflich Landläufige. Birte Leest als Schwester offenbart die tapfer gestrenge, verzweifelt bewahrte Denkungsart einer aus Überzeugung konformen Bürgerin. Und Moritz Kienemann gibt den Anwalt Richards als legeren jungen Parka-Typen, der seine Freude genießt, der Walze Staat wenigstens ein Beinchen zu stellen. Sven Hönig ist Pfarrer, neuer Gymnasialdirektor und Zureks alter Kriegskamerad - in brillanter Skizzierung entblättert er bürgerlichen Wohlschein, und heraus platzen schwitzender Opportunismus, beflissene Duldungskraft und geldgepolsterte Großsucht. Christine Hoppe stattet Zureks Frau mit beladener Treue und sorgsamer Ausgleichsenergie aus.

Christoph Heins erzählerisches Werk besticht seit jeher durch die Intelligenz der Balance: Emanzipatorischer Sinn verführte ihn in seinen Romanen nie zur Akzeptanz des Utopie-Komas DDR - so, wie ihn bundesdeutsche Übernahme-Arroganz im Gefolge der Einheit nie in bloße antiwestliche Reflexe trieb. Und mit Zureks Geschichte greift er diese Bundesrepublik an, weil er Verteidiger just jener Skepsis ist, die als Quell des Demokratischen durch Raum und Zeit geht: sich abzustoßen von gar zu tiefer Gläubigkeit ans Gesetz. Das wirft sich hier protestantisch unverstellt und intensiv geheimnislos in den Raum. Dieses Theater ist nicht flirrendes Schillern, dafür aber flammend Schiller. Und Schiller ist: Sinnlichkeit des Arguments, ein leidenschaftlich öffentliches Denken - und die tragödische Erkenntnis. Hier: Irrtümer aus Loyalität sind die schlimmsten.

Jetzt ist der Wohnkasten weg, die Gestalten stehen allein auf weiter Bühne. Hinten, sehr groß, eine frostdunkle deutsche Winterwaldlandschaft. Der Schnee wie das Weiß einer Unschuld, die es nicht gibt. Zurek wirkt plötzlich überraschend verjüngt, die Haarsträhne muss nicht mehr zurück in die Ordnung. Saallicht an! Dieser Lehrer, der so geprügelt lernen musste wie ein Nachsitzender, gibt uns Unterricht, kommt dozierend zwischen uns: »Von keinem Verbrecher und von keinem Terroristen ist Offenheit zu verlangen, aber von einem Staat sehr wohl, eben weil er dieses Monopol besitzt. Andernfalls unterscheidet er sich in nichts mehr von denen, die er zu bekämpfen hat. Dann wird der Staat selber zum Terroristen.«

Jetzt erfasst diesen Mann eine rücksichtslos forsche Heiterkeit; ein gelöster anarchischer Geist vereint plötzlich Vater und toten Sohn. Wie hatte Olivers Mitkämpferin, die auf dem Bahnhof verhaftet worden war, aus dem Gefängnis an Zureks Frau geschrieben? »Irgendwie und irgendwo steckten wir alle in einem unauflösbaren Dilemma, das uns genau zu dem Gegenteil dessen führte, was wir wollten und beabsichtigten.«

Ein Satz über den grundsätzlichen Konflikt von Existenz. Von Eltern zu Kindern, vom Staat zum Bürger, von Alt zu Jung: immer dieser Wunsch nach geradliniger Weitergabe des gesicherten Guten, des verbürgten Sittlichen, der lehrreichen Erfahrung. Und stattdessen, irgendwann: das Nichtverstehen, die Unvereinbarkeit der Generationen. Die Unversöhnlichkeit gar. Und die Frage: Wie viele unglückliche Begegnungen mit staatlicher Willkür verträgt ein junger Mensch, ohne wegzudriften? Wie viel Schande kommt über ein Gemeinwesen, wenn es dafür sorgt, dass man - gegen den eigenen Willen - Sympathie für gewalttätige Linkskriminelle bekommt?

Friederike Hellers Inszenierung bestätigt auf unverspielte Weise die Kern-Kraft dieses so wesentlichen deutschen Schriftstellers Christoph Hein, der aus der Stille heraus Ungeheuerliches zu erzählen hat und den man wohl noch lange in der Zukunft lesen wird, wenn man wissen will, was das ist: Vergeblichkeit als folterndes Barock; Selbstwert, der sich - zum Schreien paradox - oft erst unter Fremdherrschaft ausprägt.

Der Tod vor der Zeit. Oder das lebend Totsein in der Zeit. Wenn der Mensch gezwungen wird, sich ungemäß zu verhalten: zu gehorsam, zu ungehorsam. Am Ende sitzt Zurek an der Rampe. Fehlt nur, dass er mit den Beinen baumelt. Er widerruft seinen Beamteneid: »Ich habe geschworen, das Grundgesetz und alle Gesetze des Landes gewissenhaft zu wahren. Da der Staat aber seine eigenen Gesetze nicht wahrt, bin ich von meinem Amtseid entbunden.«

Dieser aufatmende Richard sagt lieb und froh zu seiner Frau: »Zieh dich um, Mädchen, wir gehen essen.«

Nächste Vorstellungen: 25., 30. Dezember, 5., 14. Januar

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