Diesseits und jenseits des Bosporus

Bulgarien, Mazedonien, Albanien und die Türkei: die musikarchäologische Schatzkiste des Muammer Ketencoglu

  • Olaf Schäfer
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt in der Türkei nur wenige Musiker wie Muammer Ketencoglu, die sich mit dem Erbe der Volksmusik im osmanischen Reich beschäftigen, ohne dabei die Musik in einen türkisch-nationalistischen Kontext zu stellen. Denn die ehrliche Beschäftigung mit diesem Gebiet ist politisch vermintes Gebiet. So haben die zahlreichen Minderheiten auf dem Gebiet, wie etwa die Griechen, Armenier, Kurden, Roma, Slawen und andere, Spuren hinterlassen. Jede Ethnie hat so ihren Beitrag zu einem Gesamtkunstwerk geliefert, dass sich am besten mit einem türkischen Teppich vergleichen lässt, dessen farbenfrohes Spiel die jeweiligen Volksgruppen und Regionen symbolisiert. Aber leider wurde und wird diese Vielfalt nicht als der wahre Reichtum dieser Region angesehen. Nationalisten, Diktatoren und Staatenlenker pochten und pochen darauf, dass nur ihre Farbe gelten soll.

Auch galt die Volksmusik in der Türkei - aber auch in anderen Ländern der Region - lange als minderwertig. Seit der Gründung der türkischen Republik waren die Herrschenden in Richtung Westen orientiert, was sich etwa auch am Programm im Radio niederschlug, wo man bevorzugt Opern und Operetten spielte. Zeitweise war Volksmusik sogar regelrecht verboten. Sie galt bestenfalls als rückständig und barg zudem immer die Gefahr nicht legitimer und politisch aufmüpfiger Texte. Das galt insbesondere für die Sprachen der Minderheiten.

Gleichwohl nutzte man Volksmusik durchaus in einem nationalistischen Sinn. Um etwa daran zu erinnern, dass es im griechischen Teil Thrakiens eine türkische Minderheit gibt, wurden beispielsweise am türkischen Nationalfeiertag regelmäßig Lieder wie »Die Brücke von Drama« (Drama ist eine Stadt in Thrakien) gespielt.

Umgekehrt führten die großen Kriege des 20. Jahrhunderts zu ungeheueren Zerstörungen und Völkerwanderungen. Nicht nur, dass nach den Balkankriegen, dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg viele Muslime vom Balkan in die Türkei flohen und die Griechen Kleinasiens nach Griechenland umgesiedelt wurden oder die anatolischen Armenier fast vollständig ausgerottet wurden. Auch der Kalte Krieg und die Teilung Europas gingen nicht spurlos an den Minderheiten im ehemaligen Jugoslawien und in Bulgarien vorüber.

Vor diesem geschichtlichen Hintergrund wird klar, dass die Beschäftigung mit der Geschichte der Volksmusik im ehemaligen Osmanischen Reich eine fast unlösbare musikethnologische Aufgabe ist, da viele ihrer Zeugnisse zerstört wurden oder verloren gingen. Bis heute besteht von Seiten aller Regierungen so gut wie kein Interesse daran, die raren musikarchäologischen Schätze zu heben. Denn vom Beitrag etwa der Roma zur Musikkultur möchte man diesseits wie jenseits des Bosporus nichts wissen, wo man höchstens der vermeintlich eigenen Bevölkerung musikalische Leistungen zurechnet. Auch der türkischen Minderheit in Ländern wie Bulgarien, Makedonien oder Albanien schenkte man höchstens Beachtung, wenn man ihre Musik für Sendungen brauchte, die etwa Radio Sofia im Kalten Krieg für die Türkei produzierte.

Muammer Ketencoglu hat es sich nun seit Jahren zur Aufgabe gemacht, diese raren Schätze zusammenzutragen. Er verfügt dazu über ein Netzwerk von meist privaten Musikethnologen, die in den jeweiligen Ländern viele dieser Lieder gesammelt haben. Zudem stieg er in die Keller vieler Archive wie das von Radio Sofia, um dort nach den raren Zeugnissen türkischer Musik zu suchen. Dass er auch im Lautarchiv der Berliner Humboldt-Universität gearbeitet hat, sei hier nur angemerkt. So entstand im Laufe von Jahrzehnten eine ungeheuere private musikethnologische Sammlung, die der blinde Musiker auch für eigene Aufnahmen und Arrangements verwendete. Die Ergebnisse seiner Arbeit veröffentliche Ketencoglu mit seinem Ensemble Balkan Yolculuglu (Balkanreise) auf mehreren CDs. Die letzte erschien 2017 unter dem Titel »Sandıgımdan Rumeli Türküleri« (Lieder des Balkans aus meiner Schatztruhe) bei KALAN und enthält 22 Lieder. Neben Muammer Ketencoglu (Akkordeon und Gesang) sind die Gesangssolistinnen Şule Kocaman Saraç und Selda Koçak Uzuntaş, sowie Sakip Songelen (Klarinette, Saxophon) zu hören.

Die Arrangements sind modern und sehr erfrischend, ohne das Wesentliche dieser Musik zu zerstören, wie dies oft bei Neuaufnahmen traditioneller Musik geschieht. Die Aufnahmen sind auf dem Youtube-Kanal der Plattenfirma und bei Muammer Ketencoglu kostenfrei anzuhören.

Die CD enthält ein Booklet in türkischer und englischer Sprache, in dem sich Übersetzungen der Texte und Informationen zu den einzelnen Liedern finden.

Muammer Ketencoglu & Balkan Yolculuglu: »Sandıgımdan Rumeli Türküleri« - Untouched Folksongs from the Balkans (KALAN)

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -