Gut schreiben reicht nicht

»Die lange Nacht der Metamorphose«: Guillaume Paoli kritisiert die Gentrifizierung der Kultur

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 3 Min.
Sie sind selten geworden, diese zwischen schnellen Fakten und reflektierter Sprache mäandernden Essaybücher. Sie entziehen sich jedem roten Faden und jeder eingängigen These. Wo dieser Planet in Unübersichtlichkeit zu versinken scheint, da muss aber zumindest die Welt des Sachbuchs kalkulierbar bleiben, so gibt es die Deutung der Zeit vor.

Guillaume Paoli ist so unabhängig und etabliert, dass er es sich leisten kann, einen anderen Weg zu gehen.

Er gründete die »Glücklichen Arbeitslosen«, deren Manifeste 2002 unter dem Titel »Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche« erschienen sind. Nachdem die rot-grüne Schröder-Fischer-Bande die »Agenda 2010« durchgesetzt hatte, meldete Paoli eine »Ich-AG« an. Seine sympathische Berufsbezeichnung: Demotivationstrainer. Anschließend war Paoli jahrelang Hausphilosoph mit eigener Praxis am Leipziger Theater. Wenn die überstrapazierte Bezeichnung des Freidenkers eine Berechtigung findet, dann sicher zur Charakterisierung dieses Mannes.

In seinem neuen Buch begibt er sich auf eine Reise in die »Lange Nacht der Metamorphose«. Er nennt seine Herangehensweise einen »Shuttledienst durch ein Universum sonderbeleuchteter Erscheinungen der Jetztzeit«. Seine Zwischenstopps folgen keinem klaren Programm. Wo er am Wegesrand eine kluge oder eine brummdumme Idee findet, da sammelt er sie auf und vermischt sie mit seinen aufmerksam beobachtend und genau lesend zusammenflanierten Gedanken.

Paoli widmet sich einem Thema, das sich ohnehin nicht allein in akademischem Duktus oder mit straffem Inhaltsverzeichnis aufarbeiten ließe: Ihm geht es um die Gentrifizierung der Kultur. Deren postmodern verklebtes Leitbild besteht ja gerade darin, die gesellschaftlichen Verhältnisse immer undurchschaubarer und komplexer wirken zu lassen. Wenig überraschend, dass Paoli die Ursache dieser Tendenz im vor Jahrzehnten im Erziehungswesen verankerten Neoliberalismus lokalisiert.

Besonders in der Belletristik und am Theater kritisiert Paoli einen neoliberalen Hang zum Zeitgenössischen. Dort herrsche eine Angst vor der Fiktion. Alles müsse »authentisch« sein. Autoren würden kaum mehr kunstkritisch betrachtet, sondern auf ihre Persönlichkeit hin überprüft. Prominentes Beispiel: Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff zog aus der Gelehrtenrepublik einen Shitstorm auf sich, als sie 2014 ihre Ablehnung der künstlichen Befruchtung kundtat.

Wer sich politisch »menschenverachtend« äußere, so die Annahme, dessen Romane seien damit automatisch diskreditiert. Da fragt Paoli zu Recht: »War Kafka vielleicht menschenlieb? Dostojewski kulturliberal? Joyce ein Samariter?«

Unter dem Deckmantel der Vielfalt sei der Einheitsbrei in die Kultur eingezogen. Paoli zitiert aus dem Film »Blues Brothers«, in dem sich die titelgebende Band bei einer Clubbetreiberin erkundigt, welche Musik dort gespielt werde. Sie antwortet: »Wir haben beide Genres: Country und Western!« Auch wir haben demnach »beide Genres: Linksliberalismus und bürgerlichen Liberalismus«. Die Kunst könne kaum mehr provozieren, denn deren Produzenten handelten längst nach einem Satz des ehemaligen Bundstagspräsidenten Norbert Lammert (CDU): »Wir haben alle Themen mit breiten Mehrheiten abgeräumt und werden dafür kritisiert, dass es dazu keine Saalschlachten mehr gibt.«

Es zähle lediglich die »fortwährende Gegenwart«. Nicht nur jede gesellschaftliche Vision, auch das Bewusstsein für Geschichte sei verschwunden. Besonders brutal zeige sich das in der Architektur. Kultstätten und jahrhundertealte Häuser müssten Shoppingmalls, Schnellstraßen und Luxushotels weichen. Ab Mitte der siebziger Jahre habe sich sogar die heilige Stadt der Muslime in ein »Disneyland« verwandelt. Das dafür mitverantwortliche Bauunternehmen sei die Bin-Laden-Gruppe: »Während Osama die Zerstörung der Twin Towers plante, ließ der Rest der Sippe die alte Wüstenstadt unter einer prächtigen Skyline verschwinden.«

Über Sentenzen von Paoli wie »Gut schreiben reicht nicht. Man muss auch böse schreiben« oder »Weißheit wiegt schwerer als Weisheit« kann man sich lange streiten; und wenn dabei kein Konsens zustande kommen sollte, umso besser. Genau darum geht es dem Philosophen, weshalb er das Abschlusskapitel mit einem schönen Begriff betitelt hat: Dissensfindung.

Guillaume Paoli: Die lange Nacht der Metamorphose. Über die Gentrifizierung der Kultur. Matthes & Seitz, 220 S., geb., 20 €.

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