Gegen die nagende Kritik der Mäuse
Neuer Band der Marx-Engels-Gesamtausgabe I/5 dokumentiert den Disput zur »Deutschen Ideologie«
Die Bearbeitung der zerstreuten und tatsächlich an einigen Stellen von Mäusen benagten Blätter, auf denen Karl Marx und Friedrich Engels vor nunmehr rund 180 Jahren Gedanken zur »Selbstverständigung« über ihre Einsichten in die Entwicklung von Geschichte und Gesellschaft notierten - später unter dem Titel »Die deutsche Ideologie« berühmt geworden - gehörte zu den schwierigsten Unternehmen auf dem Gebiet historisch-kritischer Edition. Sie wurden mit der vorliegenden, in doppeltem Sinne gewichtigen Ausgabe bravourös gemeistert.
Zu dokumentieren war im neuen Band der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) kein abgeschlossenes Werk, sondern ein Manuskriptkonvolut aus den Jahren 1845/46, das nicht nur den Gedankenaustausch zwischen Marx und Engels, sondern auch mit anderen klugen Zeitgenossen abbildet. Die Aufnahme von circa. 30 Druckseiten von Moses Hess und fast 40 von Roland Daniels in eine Marx-Engels-Ausgabe ist ein editorischer Sonderfall, gerechtfertigt dadurch, dass »Die Deutsche Ideologie« als ein kollektives Werk geplant war. Außer Hess und Daniels sollten ursprünglich auch Heinrich Heine, Georg Herwegh, Heinrich Bürgers, Wilhelm Weitling und Karl Ludwig Bernays beteiligt sein.
Zumeist diktierte Marx, während Engels wegen seiner leserlichen Handschrift die Aufgabe zukam, beider Gedanken zu notieren. Sie wurden dann von beiden mit weiteren Marginalien und Ergänzungen versehen, auch mit Gedanken anderer. Diese Arbeitsweise - kollektive »Selbstverständigung« - ist nicht nur für die »Die Deutsche Ideologie« belegt. Schon im MEGA-Band I/10 (Artikel und Entwürfe, Juli 1849 bis Juni 1851) fand beispielsweise zu Recht ein Artikel von Johann Georg Eccarius (»Die Schneiderei in London«) Aufnahme, den Marx und Engels in ihrer »Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue« veröffentlicht hatten. Das hat unseres Wissens noch niemand moniert.
Im Falle der »Deutschen Ideologie« war und ist der Diskussionsbedarf jedoch weitaus größer, denn zum einen geht es hier um tatsächlich grundlegende theoretische Fragen. Zweitens liegt seit 1933 die verdienstvolle Erstveröffentlichung als Band 5 innerhalb der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe vor, in die nicht aus Marx’ und Engels’ Feder stammende Texte nicht aufgenommen wurden. Dieser Band diente als Grundlage für Band 3 der russischen Werkausgabe und der in der DDR erschienenen Marx-Engels-Werke (MEW) - ein Standardtext seit acht Jahrzehnten.
Von ihm abzuweichen, bedurfte langjähriger, teilweise erbittert geführter Diskussionen, deren bedeutendstes Dokument der Artikel »Das Projekt der Vierteljahrsschrift von 1845/46. Zu den ursprünglichen Publikationsplänen der Manuskripte der ›Deutschen Ideologie‹« von Galina Golowina ist. Es gilt aber, sich bewusst zu bleiben, dass hinter diffizilen Fragen von Textschichten, zeitgenössischen Aussagen und anderen Quellen grundlegende Differenzen über die Texte von Marx und Engels als sakrosankte Werke von »Klassikern« oder als Produkte ringender und also auch irrender, mit einem Strudel vielfältiger Probleme kämpfender Menschen verborgen sind.
Diese Vorgeschichte ist in der Einleitung zu Band I/5 in vorbildlicher Weise rekapituliert. Es fehlt jedoch die Erwähnung der Tatsache, dass die Erstveröffentlichung von 1933 nicht unter dem Namen ihres Editors erschien, sondern dem seines Nachfolgers als Institutsdirektor. Denn David Rjazanov war 1931 in einem von Stalin persönlich eingeleiteten Prozess, der äußerlich nicht mit der MEGA, sondern mit der früheren politischen Tätigkeit des Marx-Engels-Forschers zusammenhing, zur Verbannung nach Saratov verurteilt worden; nach einem zweiten Prozess wurde Rjazanov am 21. Januar 1938 erschossen. Über die Auflösung seines Arbeitszimmers in Saratow hieß es: »Zunächst wurden auf einen LKW alle Möbel verladen, dann wurden in dem großen Ofen des Hauses hunderte Bücher, darunter mit Autographen von Bebel, Kautsky, Barbusse u. a., sowie alle Manuskripte und Dokumente Rjazanovs verbrannt. Darunter befand sich die Fotografie des jungen Engels, die Rjazanov mit einer persönlichen Widmung von Laura Lafargue erhalten hatte.« (Laura war die zweitälteste Tochter von Jenny und Karl Marx, verheiratet mit dem französischen Sozialisten Paul Lafargue.) Wenn der alte Spruch »Bücher haben ihre Schicksale« zutrifft, dann stimmt dies in vollem Maße für »Die deutsche Ideologie«. Es ist anzunehmen, dass Rjazanovs Autorexemplar damals auch in Flammen aufging. Es ist jedenfalls wahre Freude über die nach langer Wartezeit nun endlich vorliegende Ausgabe angebracht. Sie bietet eine solide Ausgangslage für weitere Forschungen und notwendige Diskussionen. Zu den in der Einleitung der Editoren noch nicht geklärten Fragen gehört jene über das Verhältnis von Marx und Engels zu den Junghegelianern. »Die Deutsche Ideologie« war nämlich keinesfalls, wie oft zu lesen, eine »Abrechnung« mit diesen. Die Polemik von Marx und Engels richtete sich im Gegenteil gerade gegen deren Gegner wie die Gebrüder Bruno und Edgar Bauer.
Bruno Bauer war ein erbitterter Feind von David Friedrich Strauß und später ein wütender Antisemit, sein Bruder Edgar erntete zweifelhaften Ruhm als Agent der zaristischen Geheimpolizei. Auch der extreme Anarchismus von Max Stirner war weit vom Junghegelianismus entfernt. Und schließlich waren Marx’ berühmte Feuerbach-Thesen nicht (wie oft missverstanden) eine Kriegserklärung, sondern Diskussionsgrundlage mit einem hochverehrten Kollegen, den er noch wenige Monate zuvor brieflich zur Mitarbeit an den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« eingeladen hatte.
In einem übergreifenden Sinne war »Die Deutsche Ideologie« Endpunkt der junghegelianischen Bewegung, die 1835/36 mit David Friedrich Strauß’ »Leben Jesu« begonnen hatte und in den »Hallischen« und »Deutschen Jahrbüchern« von 1838 bis 1842 ihren Höhepunkt erreichte. Deren politische »Macht« sah Marx darin, dass sie im Vormärz als »kühne Idealisten« gegen die »veralteten In-stitutionen der Bourgeoisie … anstürmten«.
Als eine weitere noch offene, interessante Frage erscheint uns auch, warum Marx sich ausgerechnet 1859, als er erstmals einen Teil seiner ökonomischen Studien zum Druck gab, wieder der alten Manuskripte aus den 1840er Jahren erinnerte. Die Texte der »Deutschen Ideologie« gehören zum - auch heute noch der wissenschaftlichen Diskussion bedürftigen - Grundbestand des Werkes von Marx und Engels, das sich damals noch gewissermaßen in statu nascendi befand. Bereits ein reichliches Jahr später erschien das »Manifest der Kommunistischen Partei«, in das - wie die Einleitung des Bandes I/5 nachweist - mehrere Passagen aus den »Feuerbach«-Manuskripten eingegangen sind.
Karl Marx/Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). Werke, Artikel, Entwürfe. Band I/5: Manuskripte und Drucke zur »Deutschen Ideologie«. Bearbeiter: Ulrich Pagel, Gerald Hubmann, Christine Weckwerth. De Gruyter, 1904 S., geb., 219 €.
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