Der Albtraum einer Supermacht

Wie es zum Pariser Friedensabkommen von 1973 kam

  • Hellmut Kapfenberger
  • Lesedauer: 7 Min.

Der 27. Januar 1973, ein Datum, das es wert ist, nicht aus dem Blick und der Erinnerung zu geraten, steht es doch für die Besiegelung der größten militärischen, politischen und diplomatischen Niederlage der stärksten imperialistischen Macht in ihrem gewaltsamen Streben nach unangefochtener Vormachtstellung in der Welt. Nie zuvor in ihrer Geschichte hatten sich die USA, allerdings ohne es einzugestehen, solcherart gedemütigt fühlen müssen wie an jenem Tag vor 45 Jahren. Auch heute noch ist man im offiziellen Washington von einem realistischen Blick auf damaliges Geschehen weit entfernt. Militärisch nicht besiegt, aber ohne jede Aussicht auf einen siegreichen Feldzug, finanziell arg gebeutelt und politisch am Pranger, blieb den USA keine andere Wahl, als gute Miene zum »bösen Spiel« zu machen. Gemeinsam mit dem Außenminister der Demokratischen Republik Vietnam (DRV), Xuan Thuy, hatte ihr Außenminister William P. Rogers in der französischen Hauptstadt ein Abkommen zu signieren, das sie in dieser Form noch in allerletzter Minute mit allen Mitteln zu verhindern gesucht hatten - das Abkommen über die Beendigung des Krieges und die Wiederherstellung des Friedens in Vietnam.

Als ein Dokument von unbestritten weltgeschichtlicher Bedeutung besiegelte das Pariser Friedensabkommen völkerrechtlich verbindlich, eigentlich also unanfechtbar und unwiderruflich, zunächst einmal allgemein das Ende des bis dahin längsten und blutigsten Krieges in der Welt seit dem Zweiten Weltkrieg. Konkreter aber ist zu konstatieren: Das Abkommen markierte das schmähliche Ende des mit gewaltigem personellem, materiellem und finanziellem Aufwand geführten umfassendsten Aggressionskrieges, den die USA je zu verantworten hatten. Auf ganzer Linie gescheitert war ihr Trachten danach, nicht mehr nur in der pazifischen Inselwelt vielerorts präsent zu sein, sondern endlich auch auf dem asiatischen Festland dauerhaft Fuß fassen zu können. Südvietnam war dazu auserkoren, erste asiatische Bastion im »Kampf gegen den Kommunismus« zu sein. Unverkennbares Anliegen war es, CIA-gestützte Kontrolle über das »kommunistische« Nordvietnam und über die als strategisches Pfand betrachtete gesamte indochinesische Halbinsel zu ermöglichen, in territorialer Nähe die Volksrepublik China im Visier zu haben, aber auch der UdSSR im asiatischen Raum Grenzen aufzuzeigen.

Der Unterzeichnungszeremonie in der Metropole an der Seine waren jahrelange zähe, des Öfteren von US-amerikanischer Seite unterbrochene Verhandlungen vorausgegangen, gepaart mit fortwährenden Versuchen der Washingtoner Administration, der Gegenseite mit massiver militärischer Gewalt Bedingungen für einen Friedensschluss zu diktieren. Präsident Lyndon B. Johnson, auf dessen Befehl hin nach dem im August 1964 von der USA-Marine inszenierten angeblichen »Zwischenfall im Golf von Tonkin« Anfang 1965 die ersten US-Kampftruppen nach Südvietnam gebracht und die Kriegshandlungen gegen ganz Nordvietnam aus der Luft und von See her aufgenommen worden waren, hatte Ende März 1968 die Einstellung der Angriffe auf nordvietnamesisches Gebiet nördlich des 20. Breitengrades angeordnet.

Anlass dafür waren ausbleibende durchschlagende Erfolge auf dem südvietnamesischen Schlachtfeld, obwohl Anfang jenes Jahres schon eine halbe Million amerikanische Soldaten im Süden im verlustreichen Einsatz waren. Sie hatten nicht zu verhindern vermocht, dass unter dem Banner der Nationalen Befreiungsfront (FNL) Südvietnams operierende Einheiten der Volksarmee der DRV und die mittlerweile starken, kampferfahrenen bewaffneten Kräfte der FNL am Morgen des 31. Januar 1968 völlig überraschend zu einer landesweiten, von gegnerischer Seite hervorragend koordiniert genannten »allgemeinen Offensive« angetreten waren. Die Têt-Offensive, von der USA-Regierung als die bis dahin schwersten Kämpfe ihrer Truppen gewertet, war eine der größten militärischen Auseinandersetzungen während des ganzen Krieges mit großen Verlusten auf beiden Seiten. Sie erschütterte das ohnehin morsche, mit dem Segen Washingtons 1955 unter Bruch der Genfer Indochina-Abkommen von 1954 in Saigon aus der Taufe gehobene Separatregime in seinen Grundfesten und wurde für die USA-Militärs zum Albtraum. Auch musste Washington zur Kenntnis nehmen, dass der systematisch verstärkte Bombenkrieg gegen den Norden dessen Unterstützung für den Kampf im Süden nicht hatte unterbinden können. Hinzu kam unüberhörbarer Protest in der ganzen Welt, einschließlich den USA selbst.

Im Mai 1968 in Paris aufgenommene, mit mehrfacher Verzögerung in offizielle Verhandlungen übergegangene vorbereitende Gespräche zwischen USA und DRV bewirkten, dass Johnson auch angesichts in jenem Jahr anstehender Präsidentschaftswahlen einen gänzlichen Bombardierungsstopp ab November 1968 verkündete. Der Krieg im Süden aber ging weiter. Unter Johnsons Amtsnachfolger Richard Nixon kam es dann zu einigen Jahren erbitterter Auseinandersetzungen auf den Kriegsschauplätzen in Süd und Nord, am Verhandlungstisch, in inoffiziellen Gesprächen, auf internationalem Parkett, in der Propaganda. »Nadelstichen« gegen den Norden aus der Luft bis Herbst 1971 folgte abermals Ruhe. Spätestens Ende des Jahres ließ ein Patt in der militärischen Auseinandersetzung klar werden, dass nur ein Kompromiss beider Seiten den Krieg beenden konnte. In den ersten Monaten 1972 nahm hinter verschlossenen Türen in Paris ein Friedensschluss erste Konturen an.

In dieser Situation fielen strategische B-52-Bomber erstmals über das Herzstück Nordvietnams her, legten die achtstrahligen Stratofortress in der Nacht zum 16. April mit ihren Bombenteppichen ganze Viertel der Hafenstadt Haiphong in Trümmer. Offenkundig wollte Washington fundamentale Zugeständnisse der DRV erpressen und mehr retten, als es trotz seiner überdeutlich schwächeren Verhandlungsposition bei einem Friedenskompromiss zu retten imstande war. Fortan lag bis zum Herbst der ganze Norden wieder unter Bomben und den Granaten der Schiffsartillerie der im Südchinesischen Meer kreuzenden 7. Flotte. Am 8. Mai ließ Nixon die Häfen, Flussmündungen und Küstengewässer Nordvietnams aus der Luft verminen. Mit gelegentlicher Unterbrechung wurde dennoch in Paris weiter verhandelt. Anfang Oktober konstatierte die DRV-Führung dabei »rasche Fortschritte« ohne nennenswerte Zugeständnisse ihrerseits. Am 11. Oktober erzielte man prinzipielle Einigung über den Inhalt eines umfassenden Friedensabkommens. Ab dem 22. Oktober herrschte wieder Ruhe an Nordvietnams Himmel. Am selben Tag sollte das Abkommen von den Chefunterhändlern Le Duc Tho und Henry Kissinger paraphiert werden, die Unterzeichnung durch die Außenminister wurde für den 30. Oktober vereinbart. Doch Nixon ließ das gesamte Vertragswerk wieder in Frage stellen und verlangte ultimativ Neuverhandlung. Die DRV lehnte ab, der Verhandlungsprozess kam zum Erliegen.

Die Androhung »drastischer Maßnahmen« durch Kissinger am 13. Dezember und ein 72-Stunden-Ultimatum an die Adresse Hanois am folgenden Tag verpufften wirkungslos; die DRV zeigte sich zur Fortführung der Gespräche einzig auf der Basis des im Oktober Vereinbarten bereit. Am späten Abend des 18. Dezember begann, von Nixon befohlen, völlig überraschend eine seit Monatsanfang unter größtmöglicher Geheimhaltung mit der Konzentration starker Fliegerkräfte aller Art vorbereitete Bombardierungskampagne gegen ganz Nordvietnam, wie es sie seit Beginn des Luftkrieges noch nicht gegeben hatte und wie sie offenkundig auch in Hanoi nicht erwartet worden war. Bis zum 29. Dezember säten die Maschinen mit dem weißen Stern mit mehr als 100 000 Tonnen Bomben von der Nord-Süd-Trennlinie am 17. Breitengrad bis in die Nähe der Grenze zu China Tod und Verderben.

Am 8. Januar kamen trotz dieses Wahnsinnsaktes die Chefunterhändler in Paris wieder zusammen. Sie erzielten am Folgetag definitiv Einigung auf einen Abkommenstext, wie er im Oktober nahezu wortgleich bereits vorgelegen hatte, und paraphierten acht Tage später das Dokument mit lediglich ein paar kosmetischen Textänderungen. Es folgte jener 27. Januar 1973. Der mit riesigen Opfern erkämpfte Triumph der DRV und der im Juni 1969 gebildeten, weite befreite Gebiete umfassenden Republik Südvietnam (RSV) über einen eigentlich übermächtigen Gegner war perfekt. Das in neun Kapitel mit 23 Artikeln gegliederte Abkommen verhieß das detailliert geregelte Aus für jegliche militärische Präsenz der USA in Vietnam und das schrittweise herbeizuführende Ende der seit 1955 von ihnen betriebenen Abspaltung der südlichen Landeshälfte der 1945 auf dem gesamten Landesterritorium proklamierten Demokratischen Republik Vietnam. Wie schon 1954 in Genf nach Frankreichs Niederlage in dessen Indochina-Feldzug festgeschrieben, wurden die »Unabhängigkeit, Souveränität, Einheit und territoriale Integrität Vietnams« bekräftigt.

Frieden in Vietnam - Millionen Menschen, die darauf gehofft, demonstriert und gespendet hatten, feierten das Abkommen als Sieg über den politischen und militärischen Wahnwitz einer Großmacht. Ihre Freude aber war verfrüht. Von den USA abkommenswidrig weiterhin politisch, materiell, finanziell und massiv militärisch-beratend unterstützt, ließ das Regime in Saigon vom ersten Tag an keinen Zweifel an seiner rigorosen Ablehnung des Friedensschlusses. Erst am 30. April 1975 war der Krieg definitiv zu Ende.

Unser Autor war mehrere Jahre Korrespondent in Vietnam. Auf dem Buchmarkt erschienen von ihm zuletzt »Unser Volk wird gewiss siegen. 30 Jahre Überlebenskampf Vietnams im Rückblick«, »Berlin - Bonn - Saigon - Hanoi. Zur Geschichte der deutsch-vietnamesischen Beziehungen« sowie »Ho Chi Minh - Eine Chronik«.

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