Von Dahlem nach Auschwitz
Das Harnack-Haus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft als Spiegel der Erfolge und des Versagens deutscher Wissenschaftler
Lange galt das deutsche Universitätssystem weltweit als Vorbild. Am Ende des 19. Jahrhunderts drohte es jedoch selbst in eine Krise zu geraten. Denn die Professoren mussten nicht nur übermäßig viele Lehrverpflichtungen erfüllen, ihnen fehlten häufig auch die Mittel für eine moderne, auf kostspieligen Technologien beruhende Forschung. Einer, der auf diesen Umstand frühzeitig hinwies, war der Berliner Theologe Adolf von Harnack. Das deutsche Wissenschaftssystem, schrieb er um 1900, brauche dauernde Einrichtungen, die die Universitäten entlasteten und zugleich einen Stab geschulter wissenschaftlicher Köpfe hervorbrächten. Diese Einrichtungen sollten »unbeeinträchtigt durch Unterrichtszwecke, aber in enger Fühlung mit Akademie und Universität, lediglich der Forschung dienen«.
Ähnlich dachte Friedrich Althoff, der als Ministerialdirektor im preußischen Kultusministerium großen Einfluss auf die Gestaltung der Hochschulpolitik des Kaiserreichs hatte. Er schlug vor, im südwestlichen Vorland Berlins einen Campus nach anglo-amerikanischem Vorbild zu gründen, ein »deutsches Oxford«, in dem Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen forschen und gegebenenfalls auch wohnen könnten.
Am 11. Januar 1911 wurde Althoffs Vision Realität: Im Großen Sitzungssaal der Akademie der Künste in Berlin wurde die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (KWG) gegründet, die Harnack zu ihrem Präsidenten wählte. Im Jahr darauf erfolgte in Dahlem die Eröffnung des Kaiser-Wilhelm-Instituts (KWI) für Physikalische Chemie und Elektrochemie. An dessen Spitze stand bis 1933 Fritz Haber, der, obwohl er 1915 den ersten Giftgasangriff der Geschichte geleitet hatte, 1919 den Chemienobelpreis erhielt - »für die katalytische Synthese von Ammoniak«. Ohne Habers Entdeckung, die unter anderem die Grundlage für die Herstellung von Sprengstoffen bildete, wäre Deutschland im Ersten Weltkrieg vermutlich nicht in der Lage gewesen, ausreichend Munition für die Fortführung des Krieges zu produzieren.
Bis Ende der 1920er Jahre hatten sich auf dem Campus in Dahlem insgesamt sieben Institute angesiedelt, darunter das KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Zum Direktor wurde Eugen Fischer berufen, ein Anthropologe, dessen Bekanntheit auf einer Studie zu »Rassenkreuzungen« in Afrika beruhte. Später legte er Wert auf die Feststellung, dass die Rassentheorie nicht von den Nazis stamme, sondern viel älteren Datums sei. Die Abteilung für menschliche Erblehre leitete Otmar Freiherr von Verschuer, der offen mit der extremen Rechten sympathisierte. Nach dem misslungenen Kapp-Putsch war er sogar als Mörder thüringischer Arbeiter angeklagt, aber mangels Beweisen von einem Militärgericht freigesprochen worden.
Gleich neben dem Anthropologie-Institut nahm im Mai 1929 ein imposantes Vortrags- und Begegnungszentrum seinen Betrieb auf: das sogenannte Harnack-Haus. Zur Eröffnung sprach unter anderem Reichsaußenminister Gustav Stresemann, der dem neuen Gebäude eine goldene Zukunft als internationale Begegnungsstätte des Geistes prophezeite. Und er sollte Recht behalten. In den folgenden Jahren gastierten nicht weniger als 35 Nobelpreisträger im Harnack-Haus, hielten dort Vorträge oder diskutierten über soziale und kulturelle Themen. Bis 1933 geschah dies in einer meist offenen und liberalen Atmosphäre. Danach änderte sich das Klima in Dahlem grundlegend, wie der Publizist Michael Kröher in seinem mit großer Sachkenntnis verfassten Buch »Der Club der Nobelpreisträger« darlegt.
Bereits am 1. Februar 1933 wurde im Harnack-Haus der erste Abendvortrag nach der Machtübernahme Hitlers veranstaltet. Eugen Fischer sprach über »Rassenkreuzung und geistige Leistung«. Darin vertrat er zwar einen mit vielen Konjunktiven relativierten Antisemitismus, ließ aber keinen Zweifel, dass sein Institut sich vorbehaltlos in den Dienst des »neuen Volksstaats« stellen werde. Ab 1934 führte das KWI für Anthropologie spezielle Schulungskurse in »Erb- und Rassenpflege« für SS-Ärzte durch, von denen sich einige später aktiv an der Judenvernichtung beteiligten. 1937 gerieten die von farbigen Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg im Rheinland gezeugten Kinder ins Visier der Nazis. Die Gestapo machte die sogenannten Rheinlandbastarde ausfindig und führte sie dem KWI für Anthropologie zu. Aufgrund der dort gefertigten Gutachten wurden 600 bis 800 farbige Kinder und Jugendliche zwangssterilisiert.
Otmar von Verschuer, den Fischer gern als seinen Nachfolger als Institutsdirektor gesehen hätte, verließ 1935 Dahlem und ging als Professor an die Universität Frankfurt am Main. Einer seiner dortigen Assistenten war Josef Mengele, der 1938 mit einer Arbeit zu »Sippenuntersuchungen bei Lippen-Kiefer-Gaumenspalte« in Humanmedizin promovierte. Nach seinem Eintritt in die NSDAP (den die Nazis eigentlich früher erwartet hatten) kehrte Verschuer nach Berlin zurück und übernahm 1942 die Leitung des KWI für Anthropologie. In dieser Eigenschaft kooperierte er erneut mit Mengele, der mittlerweile SS-Lagerarzt in Auschwitz war. Verschuers Mitarbeiterin Karin Magnussen erhielt von Mengele für ihre Studien 40 präparierte Augenpaare von Häftlingen, die man vermutlich eigens dafür ermordet hatte. Außerdem infizierte Mengele Menschen »verschiedener Rassenzugehörigkeit« mit Tuberkulose und schickte die Blutproben nach Dahlem, um sie auf spezifische Eiweißkörper untersuchen zu lassen.
Da am KWI für Anthropologie jedoch niemand die dafür nötigen Labortechniken beherrschte, gab Verschuer die Blutproben zur Analyse an das benachbarte KWI für Biochemie. Dessen Direktor war der Chemie-Nobelpreisträger Adolf Butenandt, der später behauptete, nichts von der Herkunft der Proben gewusst zu haben. Ihm das Gegenteil zu beweisen, war nicht möglich und vielleicht auch nicht gewollt. Immerhin amtierte Butenandt von 1960 bis 1972 als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Auch Verschuer kam nach Krieg glimpflich davon. 1946 wurde er in einem Entnazifizierungsverfahren als Mitläufer eingestuft und zu einer Geldstrafe von 600 Reichsmark verurteilt. 1951 übernahm er den Lehrstuhl für Humangenetik an der Universität Münster, den er bis zu seiner Emeritierung innehatte. Und wie reagierten andere Gelehrte in Dahlem auf die Rassenforschung in ihrer unmittelbaren Nähe? »Sie haben weggeschaut, geschwiegen, verdrängt«, schreibt Kröher.
Obwohl die Nazis das Harnack-Haus gern für ihre Zwecke nutzten (selbst Hitler war mehrfach zu Gast), wurde hier 1935 auch der im Exil verstorbene Fritz Haber geehrt, der aus einer jüdischen Familie stammte. Zunächst hatte das NS-Erziehungsministerium die von Max Planck organisierte Feier verboten, sie dann aber als »rein private und interne Veranstaltung der KWG« genehmigt. Verbeamtete Professoren und andere öffentliche Angestellte durften daran allerdings nicht teilnehmen. Die Presse blieb ausgeschlossen, und auch der Verein Deutscher Chemiker sagte kurzfristig seine Teilnahme ab. Einige Wissenschaftler schickten daraufhin ihre Ehefrauen ins Harnack-Haus, andere hatten die Courage, dort persönlich zu erscheinen wie Max Delbrück, Carl Bosch und Otto Hahn. Weil der Leipziger Physikochemiker Karl Friedrich Bonhoeffer seine Gedenkrede auf Haber nicht selbst halten durfte, wurde sie von Hahn verlesen.
Weltgeschichte schrieb das Harnack-Haus am 4. Juni 1942: Auf einer geheimen Sitzung ließ sich Hitlers Rüstungsminister Albert Speer von Werner Heisenberg und anderen deutschen Physikern über die Möglichkeiten einer atomaren Superbombe informieren. »Das Gespräch verlief mal gereizt, mal schleppend«, heißt es bei Kröher. Auf die Frage Speers, wie lange der Bau einer solchen Waffe dauern würde, antwortete Heisenberg: drei bis vier Jahre. Als die Atomforscher gar erklärten, dass sie für die Fortführung ihrer Arbeiten zusätzliche 40.000 Mark benötigten, war die Sache für Speer im Grunde erledigt. Die Summe (die später auf 350.000 Mark erhöht wurde) erschien ihm viel zu gering, um damit etwas Kriegsentscheidendes entwickeln zu können.
Einige Wochen später hatte Speer Gelegenheit, Hitler über die Gespräche in Dahlem zu informieren. Doch das Thema wurde als Punkt unter vielen in aller Kürze abgehandelt. Hitler zeigte offenkundig kein Interesse an einer Atombombe. Er hatte sich längst für andere »Wunderwaffen« entschieden: für Marschflugkörper und Raketen, die ein Team um Wernher von Braun auf der Ostseeinsel Usedom testete. Für Heisenberg und seine Kollegen bewilligte Speer lediglich einen Bunker auf dem Gelände des KWI für Physik in Dahlem. Er sollte größere Sicherheit bieten für weitere Forschungsarbeiten, die jedoch bis 1945 nicht zu einem kritischen Reaktor führten.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs übernahm zunächst der Physikochemiker Peter Adolf Thiessen, der schon früh der NSDAP beigetreten war, die kommissarische Leitung der KWG. Später wurde er als Spezialist in die Sowjetunion verbracht und entschied sich nach seiner Rückkehr für eine Tätigkeit an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Im Juli 1945 ernannte der Magistrat von Berlin Robert Havemann zum Präsidenten der KWG. Zahlreiche Professoren protestierten dagegen, darunter auch der 87-jährige Planck. Dennoch blieb Havemann bis 1948 im Amt. Dann wurde er von der inzwischen für Zehlendorf zuständigen US-Militärregierung abgesetzt, durfte aber weiter am KWI für Physikalische Chemie und Elektrochemie forschen. 1950 schließlich erhielt Havemann Berufs- und Hausverbot in Dahlem, denn er hatte es unter anderem gewagt, sich im »Neuen Deutschland« zu politischen Fragen zu äußern.
Während der Zeit des Kalten Krieges beherbergte das Harnack-Haus den Offiziersclub der US-Militärregierung. Für Wissenschaftler der KWG bzw. der daraus 1948 hervorgegangenen Max-Planck-Gesellschaft (MPG) blieben die Tore jahrzehntelang geschlossen. Erst nach dem Abzug der Alliierten aus Westberlin wurde das Gebäude 1994 an die MPG zurückgegeben, die es seither – der Harnackschen Tradition folgend – als wissenschaftliche Tagungs- und Begegnungsstätte nutzt.
Michael Kröher: Der Club der Nobelpreisträger. Wie im Harnack-Haus das 20. Jahrhundert neu erfunden wurde. Knaus Verlag. 316 S., 20 €
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