Verloren wie Blätter im Wind

»Die Geschichte einer kurzen Ehe« - ein Flüchtlingsroman von Anuk Arudpragasam

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Dieses Buch erzählt von zwei Menschen, die sich in einem Flüchtlingslager im Dschungel mitten in einem Kriegsgebiet begegnen, von dem jungen Dineshkanthan und der jungen Frau Gangeshwari, kurz Dinesh und Ganga genannt. Ihrer gemeinsamen Geschichte ist nur die Dauer eines einzigen Tages vergönnt, aber es ist die Geschichte versuchter Zärtlichkeit und verzweifelter Nähe.

Der Roman gleicht einem Requiem, einem Totengesang. Denn die Lebenden, denen er gilt, sind Todgeweihte. Man weiß es von Anfang an, aber man hofft gegen besseres Wissen bis zuletzt auf - nennen wir es einfach so - Erlösung von diesem ganzen Kriegs- und Flüchtlingselend. Die Romanhandlung, so bedrückend real sie ist, hat etwas von einem religiösen Totenritual …

Rohingya in Bangladesch, Menschen in Flüchtlingslagern in der Türkei oder an der syrisch-jordanischen Grenze, Gestrandete in Sizilien, auf Lesbos, Tausende in Idomeni in Nordgriechenland, Flüchtlingselend in Kenia, Libanon, Gaza.

In Ai Weiweis Film »Human flow«, der das erschreckende Ausmaß der weltweiten Flüchtlingsbewegungen zeigt, gibt es zweimal die gleiche eindrückliche Szene: Ein Flüchtlingslager ist aus der »Vogelperspektive«, von weit oben aus einem Hubschrauber oder einer Drohne, aufgenommen, sodass die Menschen klein wie Ameisen erscheinen. Dann zoomt die Kamera das Lager heran, geht immer tiefer, immer näher, und die »Ameisen« werden zu Menschen, zu Individuen. Diese Szene der Annäherung bildet für mich den Hintergrund von Anuk Arudpragasams »Geschichte einer kurzen Ehe«.

Ai Weiweis Film und der Roman des in Colombo, Sri Lanka, lebenden Tamilen Arudpragasam gehören in gewisser Weise zusammen, und es ist kein Zufall, dass sie jetzt fast gleichzeitig zu uns kamen. Wobei es dem Romanautor möglich war, noch weit näher an die Menschen heranzugehen, ihnen eine Gestalt, ein Gesicht zu geben, ein Leben, eine Geschichte, Denken, Fühlen, Weinen, Zuneigung, Liebe und einen eigenen Tod. Und wenn es nur zwei von Tausenden in einem unbenannten, täglich beschossenen Flüchtlingslager sind. Zwei einsame junge Menschen in einer »Stadt der Verlorenen«.

Dinesh hat eine lange Zeit der Fluchten mit Hunger und Ängsten hinter sich, er hat den Vater, den Bruder, zuletzt auch die Mutter verloren. Einsam und allein, verloren wie ein Blatt im Wind, irrt er durch das Lager. »In seiner Nachbarschaft gab es Dutzende von zerstörten Gebäuden zu erkunden, die einmal Wohnhäuser, Läden, Schulen oder Schreine gewesen waren.« In den von Kämpfen hinterlassenen Ruinen finden sich zwischen Putz, Beton, Holz und Ziegelsteinen die Überbleibsel normalen Lebens, eines Schreibtisches, »an dem früher ein Kind Hausaufgaben gemacht hat«, rostige Reste von Kochtöpfen verschwundener Familien, eine angelaufene Glocke, eine beschädigte Gipsfigur aus einem Tempel. »Bis auf diese kleinen, nutzlosen Überreste ihrer Geschichte hatte der Krieg aus all diesen verschiedenen Gebäuden die gleichen Trümmer gemacht.«

Die Überlebenden haben sich unter den Zelten Erdlöcher gegraben, um sich vor den nächtlichen Bombenangriffen zu schützen. Trotzdem müssen jeden Morgen die Verwundeten und die abgetrennten Körperteile zusammengesucht werden. Manchmal hilft Dinesh im Behelfskrankenhaus, die Schwerverletzten zu versorgen. Eines Tages bittet ihn ein älterer Mann, der ihn dabei beobachtet hat, seine Tochter Ganga zu heiraten und ihr dadurch Schutz zu geben, den er selbst nicht mehr leisten kann. Dinesh stimmt nach einigem Zögern einer improvisierten Hochzeitszeremonie zu. Ganga folgt ihm in sein kleines Versteck im Dschungel am Rande des Lagers. Mit der Nacht und dem folgenden Morgengrauen beginnen wieder die Bombardements.

Dieses schlichte, hier kurz skizzierte Geschehen wird in Anuk Arudpragasams Erzählung zu einer mit Bildern und Symbolhandlungen aufgeladenen Geschichte, in der ein einziges gemeinsames Essen, eine gründliche Waschung am nächtlichen Brunnen und der Ruf eines sterbenden Vogels den Wert des Lebens auch im Angesicht des Todes markieren.

Anuk Arudpragasam: Die Geschichte einer kurzen Ehe. Roman. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser Berlin, 223 S., geb., 22 €.

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