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- Strategiedebatte in der Linkspartei
Ohne die Verlierer gewinnen wir nicht
Um die Stagnation der Partei und die gesellschaftliche Rechtsentwicklung zu stoppen, muss die LINKE Politik für Modernisierungsverlierer machen
Auch Monate nach der Bundestagswahl schwelt in der LINKEN ein Konflikt darüber, welche Wählergruppen und Milieus wir in den letzten Jahren verloren haben und wieder stärker ansprechen sollten. Diese Debatte ist dringend notwendig. Wir sind der Auffassung, dass die LINKE sich auf diejenigen konzentrieren muss, die in den letzten zwei Jahrzehnten sozial und kulturell in die Defensive geraten und deutlich abgestiegen sind. Das ist ihre eigentliche soziale Funktion und gesellschaftliche Verantwortung. Gleichzeitig müssen wir bei den sogenannten Modernisierungsgewinnern, die uns vermehrt wählen, dafür werben, diesen Weg zu unterstützen, sodass diese Gesellschaft nicht weiter auseinanderfällt und die Rechten noch stärker werden. Die Strategie der Partei, keinen Schwerpunkt zu setzen, Milieus verbinden zu wollen, die sich nicht mehr verbinden lassen, weil aufgrund extremer sozial-kultureller Polarisierung längst ein gemeinsamer Erfahrungs- und Diskussionsraum fehlt, ist der falsche Weg.
Verluste bei Modernisierungsverlierern
Oberflächlich betrachtet, scheint die aktuelle Entwicklung der Partei verheißungsvoll – fast 500.000 Wähler hat die Partei im letzten Herbst gewonnen, mehr als 8.500 Menschen sind im letzten Jahr in die Partei eingetreten. Vor allem bei den unter 35-jährigen hat die Linkspartei bei der Bundestagswahl zugelegt. Kapitalismuskritik ist wieder en vogue bei jungen Leuten, nur leider ist die LINKE über die Jungen, Weltoffenen, Urbanen, Gebildeten hinaus nicht sonderlich angesagt.
Wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, hat die LINKE bei der Bundestagswahl im sogenannten prekären Milieu, bei den sozial und kulturell Schwächsten, darunter Arbeitslose und Niedriglöhner, sechs Prozent verloren, wir sind von 20 auf 14 Prozent gefallen. Zugleich ist die AfD in diesem Milieu von zehn auf 28 Prozent gewachsen. Wollen wir uns damit abfinden? Diese extreme, völlig inakzeptable Kräfteverschiebung kommt in unseren Analysen jedenfalls viel zu kurz. Die Studie hat zudem eine neue - für unsere Debatte zentrale - sozial-kulturelle Konfliktlinie in der Demokratie identifiziert, die ganz grob »Modernisierungsverlierer« und »Modernisierungsgewinner« unterscheidet. Da wir nicht nur im »prekären«, sondern auch im »traditionellen« und »bürgerlichen« Milieu der unteren Mittelschichten verloren haben, ist die Zustimmung insgesamt bei modernisierungsskeptischen Wählern signifikant zurückgegangen.
Es wäre ein Fehler, diese Debatte allein auf die Frage zu verkürzen, wie wir Wähler, die wir an die AfD verloren haben, zurückgewinnen können. Das wäre wichtig, würde aber nicht reichen, denn es geht um viel mehr als 400.000 Stimmen. Hätten wir nicht eine einzige Stimme an die AfD verloren, wäre unser Problem nicht grundlegend anders. Denn die Tendenz ist seit Jahren: Je tiefer der soziale Abstieg bzw. die Angst davor und je größer die kulturelle (gefühlte und reale) Entwertung des Lebensstils, desto größer unsere Schwierigkeiten, diese Wähler von uns zu überzeugen. Vor allem der letzte Punkt – die kulturelle Spaltung der Gesellschaft, die der sozialen folgt – sollte nicht länger ausgeklammert werden. Er ist eine wesentliche Erklärung für die Wählerwanderungen bei uns und anderen Parteien.
Andreas Reckwitz liefert in seinem Buch »Die Gesellschaft der Singularitäten« gewissermaßen die soziologische Unterfütterung der sozial-kulturellen Konfliktlinie der Studie der Bertelsmann Stiftung. Die spätmoderne Gesellschaft der westlichen Demokratien unterteile sich neben den Superreichen in eine Drei-Drittel-Gesellschaft: in eine neue akademische Mittelklasse, in eine alte meist nicht-akademisch ausgebildete Mittelklasse und in eine Unterklasse. Das Entscheidende für unsere Diskussion an den Thesen von Reckwitz ist, dass Kultur und die Frage des Lebensstils immer mehr zum Spaltpilz der heutigen Gesellschaft werden. Reckwitz spricht von einer »Kulturalisierung des Sozialen«. Es finden heute ständig subtile kulturelle Auf- und Abwertungen statt: Wie man sich ernährt, wie und wo man wohnt, wie weltgewandt und kosmopolitisch man ist, wie auf Gesundheit und Aussehen geachtet wird, wie gebildet man ist und seine Kinder erzieht und vieles mehr. All das ist Gegenstand gesellschaftlicher Bewertungen, Distinktion und Abgrenzung.
Krise der Anerkennung
Wer nicht mithalten kann, erlebt eine kulturelle Entwertung des eigenen Lebensstils. War die industrielle Moderne und die »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« (dies es so nie ganz gab) bis in die 80er/90er Jahre hinein eher am Standard und an einem natürlich auch sehr miefigen kulturellen Konsens ausgerichtet, wird in der Spätmoderne das Besondere, der singuläre Lebensstil und die Abgrenzung vom Standard verlangt. War die alte nicht-akademische Mittelklasse eher »Mitte und Maß« der Gesellschaft, kämpft sie heute darum, das »Mittelmaß« überhaupt zu halten. Die Unterklasse ist mit der Entwertung ihrer Arbeit durch Niedriglohn und Prekarisierung und mit einer krassen Herabwürdigung ihres Lebensstils und Ausgrenzung konfrontiert. Wo früher, auch wenn es materiell teils noch dürftiger war, trotzdem Stolz und Aufstiegsversprechen (die Hoffnung, dass es den Kindern besser gehen wird) vorherrschten, ist heute Hoffnungslosigkeit und Frust verbreitet, es fehlt an sozialem und kulturellem Halt, an Orientierung. Was wir als LINKE oft übersehen: Heute drückt sich die Spaltung der Gesellschaft nicht nur sozial und ökonomisch, sondern im Vergleich zu früheren Jahrzehnten viel stärker auch kulturell in Form einer Krise der Anerkennung aus, unter der alte Mittelklasse und Unterklasse leiden. Aus dem gesellschaftlichen Fahrstuhl, der in früheren Zeiten für nahezu alle nach oben fuhr, ist ein Paternoster geworden: Der soziale und kulturelle Aufstieg der Modernisierungsgewinner verläuft gleichzeitig zum Abstieg der Modernisierungsverlierer. Das führt dazu, dass »die neue Mittelklasse, die alte Mittelklasse und die neue Unterklasse selbst wie Parallelgesellschaften existieren, weil es wenig gemeinsamen Erfahrungs- und Diskussionsraum gibt«.
Unser Plädoyer ist, dass die die LINKE diese Krise der Anerkennung und die kulturelle Spaltung der Gesellschaft in den Blick nehmen muss. Auch in unserer aktuellen Debatte reden wir an dieser kulturellen Frage vorbei. Es wurde die These kritisiert, die Linkspartei habe die Arbeiterklasse verloren. Denn die Arbeiterklasse sei heute völlig anders zusammengesetzt als früher, viel weiblicher, migrantischer und in prekär und in tariflich, unbefristet angestellt gespalten. Das ist richtig, es bestreitet aber auch niemand. Wer behauptet ernsthaft, die LINKE habe die Arbeiterklasse verloren? Wir hatten sie noch nie. Uns geht es um unsere Verluste bei sozial-kulturellen Modernisierungsverlierern und um eine Trendumkehr für die Zukunft. Da bringt uns die Debatte um die Veränderungen innerhalb Arbeiterklasse nicht weiter, wenn wir gleichzeitig die kulturelle Klassenzugehörigkeit ignorieren. Die verschiedenen Milieus, die verbunden werden sollen, sind eben nicht nur ökonomisch voneinander getrennt. Zum Beispiel sind junge, akademische, urbane Beschäftigte in der Regel ausschließlich ökonomisch und für einen begrenzten Zeitraum prekär - sie sind weder prekär gebildet, sie haben kulturelles Kapital, sind in der Regel kosmopolitisch und mehrsprachig, sie wohnen nicht in prekären Stadtvierteln, sie leben nicht im gesellschaftlichen Abseits. Ihnen ist bewusst, aufgrund ihres kulturellen Kapitals gesellschaftlich aufsteigen zu können und Anerkennung zu erfahren. Diejenigen, die der LINKEN derzeit Zulauf verschaffen, haben kaum Anknüpfungspunkte zu denen, die tatsächlich abgehängt sind. Um im Bild zu bleiben: Sie stehen auf der Seite der Modernisierungsgewinner, wenn nicht heute, dann absehbar morgen. Diese Erwartung trennt sie von denen, die dauerhaft Modernisierungsverlierer sind.
Besorgniserregende Entwicklung
62 Prozent unserer Wähler bezeichnen sich inzwischen als Modernisierungsgewinner, 38 Prozent als Modernisierungsverlierer. Das ist einerseits erfreulich, weil wir in für uns jahrelang schwierigen Milieus gesellschaftliche Akzeptanz gewonnen haben. Andererseits sind diese Zahlen auch besorgniserregend, weil Grüne, FDP, SPD und CDU/CSU ebenfalls mehrheitlich von Modernisierungsgewinnern gewählt werden. Allein bei der AfD ist es umgekehrt: Unter ihren Wählern gibt es eine Mehrheit, die sich als Modernisierungsverlierer begreift. Diese Entwicklung darf so nicht weitergehen. Wenn wir mit den anderen Parteien um die Gewinner von heute und morgen konkurrieren, dann wird die Stellung der AfD bei denjenigen, die kulturell und ökonomisch abgehängt sind, nur noch weiter gestärkt. Zugleich würden wir uns auf den Weg der Grünen begeben.
Vor zwanzig Jahren waren die Verhältnisse anders: 1998 haben Schröder und Lafontaine bei der Bundestagwahl für den Effekt gesorgt, dass die soziale Spaltung in der Wahlbeteiligung signifikant zurückgegangen ist. Sozial Schwache, die vorher nicht gewählt haben, sind damals zur Wahl gegangen (Motiv: Hoffnung). 2017 hat die AfD für denselben Effekt gesorgt (Motiv: Frust und Angst). Die LINKE hat mit ihrem Ergebnis nicht dazu beigetragen, dass sich die soziale Spaltung bei der Wahlbeteiligung verringert.
Verantwortung der LINKEN ist die Vertretung der sozial-kulturellen Verlierer
Die Linkspartei steht vor einer strategischen Grundsatzentscheidung. Wollen wir weiter versuchen, Milieus zu verbinden, die sich nicht verbinden lassen, weil sozial-kulturell Welten zwischen ihnen liegen? Oder sollten wir den strategischen Schwerpunkt auf diejenigen legen, die die sozialen und kulturellen Verlierer von Globalisierung und Modernisierung sind?
Wir meinen, es ist unsere soziale Funktion und Verantwortung, gerade diejenigen anzusprechen, die am meisten unter der gesellschaftlichen Entwicklung leiden. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sagt, dass seit den 90er Jahren über 40 Prozent der Bevölkerung an Wohlstand verloren haben. Wir beziehen uns also nicht auf eine kleine Gruppe, wenn es um die Verlierer geht. Wenn wir wie bei Reckwitz alte Mittelklasse und Unterklasse zusammennehmen, ist in den letzten Jahrzehnten wohl die Mehrheit der Gesellschaft sozial-kulturell abgestiegen bzw. zumindest in die Defensive geraten.
Um diese Leute erfolgreicher anzusprechen, müssen wir erstens als Partei zur Kenntnis nehmen, dass die Gesellschaft nicht nur sozial, sondern gerade auch kulturell extrem gespalten ist. Hier geht es um Empathie und Sprache, die wir sprechen und die oft nicht verstanden wird sowie um den Umgang mit Vorbehalten, Vorurteilen und Ressentiments, die sich bei gesellschaftlichem Abstieg verstärken. Zweitens müsste die LINKE den strategischen Kompass neujustieren und deutlich vermitteln, dass es uns in erster Linie darum geht, Modernisierungsverlierer von linker Politik zu überzeugen, auch um sie nicht den Rechten zu überlassen. Das hat nichts damit zu tun, Milieus gegeneinander auszuspielen. Das will niemand in der LINKEN. Nötig sind jedoch ein strategischer Schwerpunkt und Orientierung, für welche Leute wir Politik machen und wofür wir gebraucht werden. Deshalb müssen wir drittens bei den Modernisierungsgewinnern, die wir als Wähler nicht verlieren dürfen, dafür werben, diesen Weg zu unterstützen. Wir vergleichen das mit der Flüchtlingskrise. Auch vor zweieinhalb Jahren haben wir als Partei in unseren Milieus dazu aufgerufen, Hilfsbereitschaft zu leisten. Natürlich war das für viele eine Selbstverständlichkeit. Jetzt müssen wir die links eingestellten Modernisierungsgewinner dafür sensibilisieren und an sie appellieren, dabei mitzuhelfen, dass die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke wieder mehr Modernisierungsverlierer erreichen. Dies kann gelingen. Denn auch die Leute, die neu in die Partei kommen und diese verändern, tun dies im Wissen um den Wert eines funktionierenden Sozialstaates und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Es muss verhindert werden, dass sich der Zuspruch der AfD in eine politische und kulturelle Hegemonie der Rechten bei den sozial-kulturellen Verlierern auswächst. Dazu gehört auch, eine Diskussion über eine realistische Einwanderungspolitik zu führen. Wer die Rechtsentwicklung stoppen will, darf nicht dabei zusehen, wie die AfD von Wahl zu Wahl immer weiter in die Milieus der prekären und unteren Mittelschichten vorstößt. Dafür muss die LINKE eine Politik für Modernisierungsverlierer vertreten - ohne gewonnene Milieus aufzugeben. Diese notwendige Debatte sollte nicht über Abkürzungen geführt werden, sondern innerhalb der LINKEN, um deren Zukunft es sich zu kämpfen lohnt.
Jan Marose und Malte Heidorn sind Mitglieder des Forums demokratischer Sozialismus in der Linkspartei und Mitarbeiter im Bundestagsbüro von Matthias Höhn.
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