Wo ist das Gift der Pfeile, der Messer, der Speerspitzen?

Büchners «Woyzeck» im Theater unterm Dach in Berlin

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Büchner war sehr jung, als er seine Dramen schrieb, und jung ist der Arzt und Dichter auch gestorben. Ersteres dürfte studierende Theatermacher erstaunen, vielleicht sogar befleißigen, darüber nachzusinnen, wie und woher es kommt, dass ein Dreiundzwanzigjähriger sich zu befähigen verstand, schärfer zu blicken als seine Mitwelt. Die Akteurinnen und Akteure der Bühne müssen keinesfalls Genies wie dieser sein, um zu versuchen, Büchners Elan und seine Einsicht in die Verhältnisse zu erfassen.

Büchner, wer wüsste das nicht, ist eine literarische Weltgestalt. Sein «Woyzeck» blieb zwar unvollendet, aber beliebig auslegbar und fortzutreiben ist das Stück darum nicht. Der ganze Büchner lässt sich nicht ausschlachten wie Blech auf dem Müllberg. Der schrieb, weil ihm die Verhältnisse die Feder führten und er das irdische Unglück in sich aufsog wie kein Zweiter seiner Zeit, es wie auf dem Seziertisch analysierte und zum Sprechen brachte.

Büchner, legt man die Elle an, unter welchen Umständen er lebte und was er beschrieb, war und ist ein Systemgegner. Er war und ist der Herrschenden Feind. Zu seiner Zeit prangerte er Missstände an, die unsägliche Ausbeutung ringsum, die Schinderei auf den Feldern und hinter den Werktoren des Frühkapitalismus.

Und er versäumte es nicht, die Leiden und Wünsche der Geschundenen auszudrücken. Trotz der geringen Zeit, die ihm blieb, bewältigte er ein gewaltiges Pensum von Studium und literarischer Arbeit. Auch physiologisch fallen Dinge zusammen. Die Feder führte er wie das Seziermesser. Seine Sätze dringen gleichsam durch die Haut der Individuen und forschen deren Mantelschichten aus. Tatsächlich sezierte der Mediziner eine Zeit lang täglich frische Flussbarben, Hechte, Karpfen, Barsche und - Menschen.

Eine seiner ersten Vorlesungen handelte von Schädelnerven. Körperliche Artefakte sind Teil seiner Dramen («Woyzeck», «Dantons Tod»). Sie spiegeln, was die Kreatur zusammenhält, und begründen, was sie auseinanderreißt. Stets ist die Kreatur glücklos. Kein Streicheln erhält sie, sondern nur Schläge. Wie sagte Marx? «Man muss das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen.» Ist es wichtig, derlei zu wissen, bevor die Proben beginnen? Ja.

Enttäuschend die Aufführung des «Woyzeck» im Theater unterm Dach, gemacht von jungen, noch in Ausbildung befindlichen, gewiss freundlichen Menschen. Mit mächtiger, schneidender Stimme hebt der Reigen an, aber das Stück, missverstanden, ist stumpf. Am Ende stiert ein Irrer rollenden Auges grinsend ins Publikum. Narr dieser Woyzeck, mehr nicht. Fern das Wort Heiner Müllers von der «Wunde Woyzeck». Ein Jammer, alles fehlt: die soziale, politische Dimension, das brennende Herz, die Schonungslosigkeit, Büchners schneidende Figurensprache auf die Kollisionen der Gegenwart so zu legen, dass es schmerzt.

Die Aufführung unter Jukub Gawlik mit drei Darstellern (Viktor Nilsson, Alexander Stürmer, Esra Schreier) ist schlechterdings nicht mehr als eine Etüde. Etüden zu üben, gehört zur Theaterpraxis, jedoch nicht als infantil Unfertiges vor die Öffentlichkeit. Wer das tut, der überschätzt sich. War denn keiner drin von den Dozentinnen und Dozenten der «Busch»- und «Wolf»-Schauspielschulen, um zu sagen: «Halt, so nicht, liebe Freunde» Das ist schlecht, unreflektiert, falsch, was ihr macht!«? Freilich gilt längst auch auf dem Theater das ungeschriebene Recht, allen Unsinn zu verbreiten.

Was mit dieser »Woyzeck«-Lesart auf die Bühne kam, ist ein schlechter Witz. Nichts wurde verstanden, weder das Stück-Fragment selbst, noch dessen geschichtliches Umfeld, noch die Weisen, wie in diesen brutalen Zeiten Theater damit umgeht. Es gab hervorragende Inszenierungen etwa von Tilmann Köhler im Gorki-Theater, als das Haus noch seinem Namen Ehre machte, oder in Cottbus mit »Woyzeck und Marie« in der Regie von Mario Holetzeck. Hat dieses Ensemble sich mal umgeguckt, wie andere Theater den Büchner machen?

Unschwer, aus Texten des Dichters psychologische Zustände, autistisches, schizoides Verhalten abzuleiten, wie diese Inszenierung es macht. Solches ist im »Woyzeck« offenkundig, aber immer in Verbindung mit sozialer Plastik, mit der Frage nach Welt. Wer das nicht beachtet, verfehlt den Dichter. Die Aufführung brilliert allenfalls als eine Irritation, die allein auf Freud basiert und nicht gleichermaßen auf Freud (das Unbewusste) und Darwin (die Natur des Körpers) und Büchner (die verzweifelte, gefährdete, gefährliche Kreatur) und Marx (die Notwendigkeit, den alten Verhältnissen den Marsch zu blasen).

Die Protagonisten: Zwei Kreaturen, arm, abgerissen, kaum Obdach, gedemütigt: die Hure Marie mit Kind, der Barbier Woyzeck, gestellt in ein menschenfeindliches Umfeld mit Typen wie dem Hauptmann, dem Arzt, dem Tambourmajor. Das Paar trennt ein Riss, der nicht mehr zu kitten ist. Die beiden möchten sich lieb haben und werden genötigt, sich zu hassen. Misstrauisch beobachten sie einander.

Marie sieht Woyzeck umso mehr dahinsiechen, je mehr Hohnlachen über ihn hereinbricht und je stärker sein Menschsein in Frage steht. Woyzeck belauert Marie, fürchtend um die Frau, die ihm Atem gibt und zugleich dem Brote willen immer offenherziger der Obrigkeit zu Diensten ist. Er, voller Angst, von allem Elend der Welt gezeichnet, verletzt wie ein Tier, zieht zuletzt den Dolch und ersticht sie.

Kaum etwas davon erschließt sich auf der Bühne unterm Dach. Dort herrscht Chaos in den Figurenbeziehungen. Jegliche Schärfe bleibt außen vor. Keine Diagnose stellt sie, die verblüffen könnte, obwohl die Winde der Epoche heftig fegten, als Büchner den »Hessischen Landboten« und die »Woyzeck«-Fragmente schrieb, und dieselben sich heute wie Windhosen flächendeckend austoben.

Wo ist das Gift der Pfeile, der Messer, der Speerspitzen, die Büchner seinem Drama eingepflanzt hat? Wer sich mit ihm ernsthaft befasst, der probiert das Gift und tut es nicht unter Verschluss. Wo sind die Augen, die die heutigen Zustände grausam anlachen? Dergleichen hervorzuheben, dazu hätte es Wissen und Mut bedurft. Gut, es sind nur drei Spieler, sie mimen mehrere Rollen, aber selbst mit einem einzigen Spieler hätte sich mithilfe von Spiegelungen, wechselnden Masken, Kostümen, Medien (Fotos, Bilder, Filme) ein Kompendium aus dem Paar, dem Hauptmann, dem Tambourmajor, dem Doktor bauen lassen.

»Man kann vieles sehen, wenn man nicht blind ist und die Sonne scheint«, sagt Woyzeck, und meint damit noch die dunkelsten Seiten. Das klingt wie ein Auftrag.

Nächste Vorstellungen: 10., 11. Februar

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