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Das Rätsel Basarow

Iwan Turgenjew: »Väter und Söhne«, sein berühmter Roman, neu übersetzt - und neu gelesen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.

Väter und Söhne», Iwan Turgenjews wohl bekanntester Roman: Wie Ganna-Maria Braungardt ihn jetzt ins Deutsche brachte, ruft er geradezu danach, neu oder wieder gelesen zu werden. Ohne etwas sprachlich zu «modernisieren», hat sie ihm Frische, Lebendigkeit, Schwung gegeben. Bei aller Werktreue zielte sie auf gute Lesbarkeit. Was nicht heißt, dass alle früheren Übersetzungen - es gibt einige - völlig unlesbar gewesen wären. Aber mit einer neuen deutschen Fassung wird auch neues Interesse auf dem Buchmarkt geweckt. Was dieser Roman wohl verdient, um es vorab zu sagen.

Mai 1859: Arkadi Kirsanow - mit 23 hat er sein Studium beendet - kommt aus der Universität von St. Petersburg zurück in sein Elternhaus auf dem Land. Er hat seinen Freund mitgebracht, zu dem er aufblickt, dem er gefallen möchte. Dieser Jewgeni Basarow, angehender Arzt, nutzt jede Gelegenheit, seine Gastgeber zu brüskieren. Herablassend urteilt er über Arkadis Vater Nikolai, der ein liberaler Gutsbesitzer ist und versucht, familiäre Harmonie zu wahren.

Mit Arkadis Onkel gerät er dann schrecklich aneinander. Denn Pawel Kirsanow, elegant gekleidet, ein «Aristokrat alter Schule», ist ein Verteidiger tradierter Werte. «Liberalismus, Progress, Prinzipien» - voller Hohn spricht Basarow diese Worte aus. «In dieser Zeit ist Ablehnung das Nützlichste - also lehnen wir ab.» - «Alles?», fragte Pawel Kirsanow. - «Alles.» - «Nicht nur die Kunst, die Poesie, … sondern auch … ich scheue mich, es auszusprechen …» - «Alles», wiederholte Basarow mit unbeschreiblichem Gleichmut.«

So wie die Anwesenden bei Tisch schockiert waren über solche Reden, hat dieser Basarow über die Jahrhunderte Leser und Literaturkritik fasziniert. Er ist gleichsam zur Hauptgestalt des Werkes geworden, was ungerecht ist, weil da noch zwei Elternpaare und zwei sehr interessante junge Frauen sind. Der Titel »Väter und Söhne« (im Original »Otzy i deti«) deutete indes auf einen Generationenkonflikt, der schon zu Lebzeiten des Autors als Gesellschaftskonflikt verstanden wurde. Turgenjew, der ein Adliger und zugleich ein Befürworter von Reformen nach westeuropäischem Vorbild war, hatte sich sehenden Auges zwischen zwei Feuer begeben. Die einen kritisierten ihn, weil er einem »Nihilisten«, einem Gegner der herrschenden Ordnung, so ausführlich das Wort erteilte, die anderen zürnten, weil sie sich in Basarow nicht wiedererkannten. Seine Idealisierung sollte indes nicht lange auf sich warten lassen.

Turgenjew hatte in ihm einen interessanten Charakter gesehen, für den »die ungewöhnliche Person eines jungen Provinzarztes« Vorbild gewesen war. Wenn er in Erklärungen zum Buch den Begriff »neuer Mensch« verwandte, dann, weil er sich selber als »alten« sah, der sich darüber klar werden wollte, wie sich die Gesellschaft veränderte. Die »Herren Kritiker« hätten »überhaupt keine rechte Vorstellung«, »was sich in der Seele eines Autors abspielt«, schrieb er 1868/69 in Baden-Baden in seinem Aufsatz »Aus Anlass von ›Väter und Söhne‹«. »Sie wissen zum Beispiel nichts von jenem Genuss ..., der darin besteht, über sich selbst, über die eigenen Mängel in den gezeichneten, erdachten Gestalten zu Gericht zu sitzen; sie sind fest überzeugt, dass ein Autor nichts anderes im Sinn hat, als ›seine Ideen‹ durchzusetzen …«

Das Missverständnis wurde zur Regel. »Wie kaum bei einem anderen Werk der Weltliteratur ist im Roman ›Väter und Söhne‹ der Konflikt zweier Gesellschaftsklassen und Ideologien direkt zur strukturellen Grundlage des Werkes geworden«, hieß es im Nachwort zur Ausgabe von 1964 im Paul List Verlag Leipzig. In diesem Sinne wurde Turgenjew auch in der »Geschichte der klassischen russischen Literatur« von 1965 und der zweibändigen »Geschichte der russischen Literatur von den Anfängen bis 1917« von 1985 behandelt. Eine ab-strakte Deutung - vielen heutigen Lesern, die noch nie etwas von Turgenjew gelesen haben, dürfte sie herzlich egal sein. Damals aber schmerzte sie. Wie ein vielschichtiger Roman auf einen einfachen Nenner gebracht war, darin steckte eine Ermächtigung, die nicht nur Literarisches meinte. So wie Basarow von Arkadis Vater sagte, seine »Messen« seien »gesungen«, so wie eine Revolution eben mit allem umspringt, was nicht das Neue verkörpert.

»Die Auflehnung gegen die Vätergeneration ist so alt wie die Menschheit«, schreibt Ganna-Maria Braungardt in ihrem klugen Nachwort. »Ohne die Rebellion der Jugend gibt es keine Veränderung; so unabdingbar die Bewegung der 68er für die politische Entwicklung der Gesellschaft war, so zwangsläufig sind heute Kapitalismus- und Globalisierungskritik.« Stimmt - solange ein selbstgefällig-rücksichtsloser Basarow nicht die Macht übernimmt. Dabei ist Basarow nur ein Teil dessen, was Turgenjew in seinem 1861/62 entstandenen Roman angesichts gesellschaftlicher Konflikte bewegte. Die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861, er führt es in lebendigen Szenen vor Augen, hatte dem Konflikt nur die Spitze abgebrochen. Die Bauern mussten das Land den Gutsbesitzern abkaufen und sich verschulden. Nikolai Kirsanow beschwert sich bitter, dass sie den Zins nicht zahlen, und beschäftigt lieber Tagelöhner als »Freigelassene«. Aber auch mit ihnen gab es Ärger. »Die einen verlangten sofortige Auszahlung oder eine Lohnerhöhung, andere gingen mit ihrem Vorschuss auf und davon … die Arbeit wurde nachlässig erledigt …«

Mehr Produktivität in der Landwirtschaft - das würde für Russland noch lange ein Problem bleiben. Zugleich kommt einem durchaus Heutiges in den Sinn: die Ablehnung entfremdeter Arbeit, die Verantwortungslosigkeit im Verfolgen eigener Interessen. Und auch daran muss man denken: Wer von den Bauern sich als Eigentümer verhielt und zu einigem Wohlstand kam, den traf später die Verfolgung der Kulaken.

Basarow ein Kämpfer für die Unterdrückten? Mitnichten! Die Bauern sind ihm fremd. Zwar führt er gern das Wort »Volk« im Munde, wobei er die Illusionen der sich damals formierenden »Volkstümler« bezüglich der »Dorfgemeinschaft« nicht teilte. Wenn er von einem »Wir« spricht, meint er die eigene neu entstandene Gesellschaftsschicht der »Rasnotschinzen«: jene Intellektuellen, die nicht dem Adel entstammten, sich in Konkurrenz zu diesem wussten und logischerweise das ganze feudale System ablehnten.

Dabei kommt er nicht aus armen Verhältnissen. Seine Eltern besitzen ein Gut, allerdings ein kleineres als die Kirsanows. Sein Vater war »nur« ein Stabsarzt gewesen. Standesunterschiede - einst offen ausgelebt - werden heute als »feine Unterschiede« eher verhohlen. Man kann sich indes gut vorstellen, wie sich Basarow gegen die Etablierteren wehrte mit Trotz und Zorn. Gute Manieren? Gerade nicht! Mit eurer ganzen Kultur könnt ihr zum Teufel gehen! Mit euren überlebten Traditionen! Ein aufstrebender, wissensbegeisterter jungen Mann, der hinter seiner Schroffheit Unsicherheit, ja Verletzlichkeit verbirgt. Der bald tatsächlich verletzt wird, weil er eine Frau begehrt, die ihm so ähnlich ist, dass sie sich ebenso vor Gefühlen fürchtet.

Und der sterbend in einer großen romantischen Szene von dieser Anna Abschied nimmt, obwohl er vorgab, jedes Sentiment zu verachten. Geschah es vielleicht gar aus Verachtung seiner selbst, dass er sich beim Sezieren einer Leiche infizierte und an Fleckfieber (auch Flecktyphus genannt, nicht an Typhus, wie es in allen Übersetzungen heißt) starb?

Unvergesslich die Szene am Schluss, als seine gebrechlichen Eltern den Staub von seinem Grabstein wischen und die Zweige der Tannen richten. »Sind ihre Gebete, ihre Tränen etwa nutzlos?«, fragt Turgenjew.

Nikolai Kirsanow, der zu Beginn des Buches fünf Stunden lang auf der Straße den Wagen seines Sohnes erwartet hatte, darf ihn am Ende bei sich behalten und wird vielleicht sogar Enkel haben. Denn Arkadi hat Annas Schwester, die kluge, feinsinnige und selbstbewusste Katja, geheiratet. Wie aber mag es deren Kindern wohl später ergehen?

Iwan Turgenjew: Väter und Söhne. Roman. Neu übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Ganna-Maria Braungardt. Deutscher Taschenbuch Verlag. 335 S., geb., 26 €.

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