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Verfehlte Personalplanung
Aufgrund des Mangels an ausgebildeten Pädagogen setzen viele Bundesländer auf Quereinsteiger.
Wie ernst die Lage ist, zeigt sich in Berlin. Besonders prekär war hier die Ausgangslage an den Grundschulen. Hier standen bereits im Schuljahr 2016/17 den aufgrund steigender Schülerzahlen und ausscheidenden Fachkräften neu zu besetzenden 1000 Stellen lediglich 175 vollständig ausgebildete Referendarinnen und Referendare gegenüber. »Der Senat hat jahrelang die steigende Geburtenrate und die Entwicklung bei den Schülerzahlen ignoriert und zu wenige eigene Lehrkräfte ausgebildet«, kritisiert der GEW-Landesvorsitzende Tom Erdmann.
Die Krise ist hausgemacht, wie ein Blick auf die Statistik zeigt. Laut Bedarfsplanung des Berliner Senats müssten bis zum Schuljahr 2024/25 jährlich zwischen 1700 und 2200 Lehrer (Vollzeitstellen) eingestellt werden, um den erwarteten Fachkräftebedarf zu decken. Mit Absolventen der Berliner Hochschulen allein kann dieser Einstellungsbedarf nicht bewältigt werden. 2016 lagen die Aufnahmekapazitäten in den Master-Studiengängen in allen Lehrämtern zusammen bei 1358 Plätzen. Mit der Freien Universität und der Humboldt-Universität schloss der Senat 2016 eine Vereinbarung zum Ausbau der Ausbildungskapazitäten, die jedoch zunächst bei den Bachelor-Studiengängen begann und sich erst ab 2019 auf die Master-Studiengänge auswirken wird.
Immer häufiger werden deshalb unbesetzte Stellen mit Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern besetzt, also mit Bewerbern, die zwar ein akademisches Fach studiert haben, denen aber die pädagogische Profession fehlt. Sie müssen diese berufsbegleitend erwerben. Auch hier fehlt es an den nötigen Kapazitäten. Zu Beginn des laufenden Schuljahres waren im Berliner Schuldienst über alle Schulformen hinweg 950 Quereinsteigerinnen eingestellt. Davon waren knapp 600 Personen, die mindestens ein Fach nachstudieren müssen. Allerdings gab es dafür lediglich 300 entsprechende Studienplätze.
Zu den Opfern dieser verfehlten Studienplatzplanung zählt Nadine Oswald. Die 33-jährige Diplom-Physikerin unterrichtet seit zweieinhalb Jahren an einer Berliner Oberschule Physik und Mathematik für die Klassen 5 bis 13; zunächst als Quereinsteigerin, Ende vergangenen Jahres hat sie ihre berufsbegleitende Ausbildung abgeschlossen. In den Schuldienst gelockt wurde sie durch eine Werbekampagne des Berliner Senats. »Das Land Berlin sucht ja händeringend Lehrerinnen und Lehrer und ich dachte, da müsste es doch ein Leichtes sein, in den Schuldienst einzusteigen«, blickt die ehemalige Unternehmensberaterin zurück. Doch vor dem Seiteneinstieg musste erst einmal die Bürokratie überwunden werden. »Meine erste Bewerbung beim Senat ging angeblich auf dem Postweg verloren, erst ein halbes Jahr später wurde meine zweite Bewerbung angenommen.« Dann durfte sie zwar als Quereinsteigerin unterrichten, doch die berufsbegleitenden Seminare an der Uni konnte sie erst sechs Monate später belegen, weil die zuständigen Stellen ihre Einstellungspapiere erst mit Verzögerung fertig hatten und Nadine Oswald deshalb die Einführungswoche an der Uni versäumte.
Katastrophal ist die Situation in den Berliner Grundschulen. Im laufenden Schuljahr sind unter den neu eingestellten Männern und Frauen weniger als 50 Prozent ausgebildete Grundschullehrerinnen und -lehrer, kritisiert Stephan Wahner von der Fachgruppe Grundschule der Berliner GEW. Die restlichen Stellen wurden mit Quereinsteigern (30 bis 40 Prozent) und Gymnasiallehrern (rund 10 Prozent) besetzt. Auf letztere kann deshalb zurückgegriffen werden, weil es im Gymnasialbereich wegen der besseren finanziellen Bezahlung von Gymnasiallehrern mehr Studierende und daher Ausbildungsüberkapazitäten gibt, wie Nuri Kiefer, Leiter des Vorstandsbereichs Schule der Berliner GEW, erläutert.
Um den Job an Grundschulen finanziell attraktiver zu machen, hat der Berliner Senat zu Beginn des Schuljahres eine Änderung bei der Gehaltseingruppierung vorgenommen - und damit ein neues Problem geschaffen. Neu eingestellte Lehrkräfte werden nach eineinhalb Jahren wie Lehrkräfte an den weiterführenden Schulen bezahlt. Dies hat zu Unmut unter den sogenannten Bestandslehrkräften an den Grundschulen geführt, die zwischen 500 und 1000 Euro brutto im Monat weniger als Pädagoginnen und Pädgogen an den Sekundarschulen und Gymnasien verdienen.
An den weiterführenden Schulen in Berlin ist der Personalmangel zwar nicht ganz so dramatisch wie an den Grundschulen, aber auch hier fehlen in bestimmten Fächern Pädagogen. An der Carlo-Schmid-Oberschule im Bezirk Spandau wird vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern und in Mathematik händeringend Personal gesucht. Schulleiterin Bärbel Pobloth versucht, die Lücken mit Quereinsteigern zu schließen. Viele davon kommen aus dem prekären Mittelbau der Hochschulen und wechseln wegen der sicheren Jobperspektive in den Schuldienst. Unproblematisch ist das jedoch nicht, denn nicht jeder, der ein guter Hochschuldozent war, ist auch für den Umgang mit pubertierenden Jugendlichen oder Grundschulkindern geeignet. Hinter vorgehaltener Hand beschweren sich daher Schulleiterinnen und -leiter in Berlin über die ungenügende pädagogische Eignung der Quereinsteiger.
Laut sagen will man das nicht, denn potenzielle Bewerberinnen und Bewerber sollen nicht abgeschreckt werden. So sieht sich auch Pobloth Jahr für Jahr mit der gleichen Situation konfrontiert: »Immer wieder sagen mir kurzfristig Lehrerinnen und Lehrer ab, weil sie eine bessere Stelle gefunden haben.« Der Grund: Schulen am Berliner Stadtrand müssen mit den Brandenburger Schulen konkurrieren. Anders als Berlin verbeamtet Brandenburg seine Schulpädagogen. Manche junge Lehrkraft, die aus anderen Bundesländern nach Berlin kommt, zieht es zudem eher in kulturell attraktivere Stadtteile wie Mitte, Prenzlauer Berg, Kreuzberg oder Friedrichshain.
Unter dieser Entwicklung leiden besonders Schulen in den sozialen Brennpunkten, die deshalb ebenfalls verstärkt auf Quereinsteiger zurückgreifen. An einigen Einrichtungen, so GEW-Landeschef Tom Erdmann, bestehen die Kollegien mittlerweile zu einem Drittel aus Seiteneinsteigern. Als problematisch wertet er die neuen Richtlinien für die Klassengrößen an den Berliner Grundschulen. Der Senat hatte im Frühjahr 2017 beschlossen, bei der Zuweisung von Lehrerstunden nicht mehr die Anzahl der Klassen heranzuziehen, sondern die Zahl der Schüler. Die Folge: Schulen mit geringeren Klassenfrequenzen erhalten jetzt weniger Personal. Drei Viertel der Grundschulen hatten nach Erdmanns Angaben zu Beginn des aktuellen Schuljahres eine deutliche Erhöhung der Klassenfrequenzen rückgemeldet. Betroffen seien in erster Linie Brennpunkt-Schulen, die bislang kleinere Klassen mit 20 Schülern oder weniger einrichten konnten. Die neue Richtlinie für die Bemessung der Lehrerstunden sei ein Rechentrick des Senats, um den Lehrerinnenmangel zu kaschieren, so Erdmann.
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