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- Ökonomische Sprachkritik
Armenspeisung und Ticketmentalität
Warum die Rede vom kostenlosen Nahverkehr falsch ist
In Essen hat sich der Betreiber einer Armenspeisung, neudeutsch »Tafel« genannt, dazu entschieden, die Almosen nur noch an Bedürftige mit deutschem Pass auszugeben. Dies sei eine Notmaßnahme, sagte der Betreiber zur Begründung, weil in den vergangenen Wochen der Anteil von Geflüchteten und Migranten zu groß geworden sei; viele ältere Einheimische hätten sich dadurch ausgegrenzt gefühlt und seien nicht mehr zur Essensausgabe erschienen. Die Maßnahme sei zeitlich beschränkt und könne nach entsprechender Beruhigung der Lage wieder zurückgenommen werden.
Diese Ticketmentalität (nur wer das Ticket, den deutschen Pass, hat, darf zur Tafel) ist die logische Konsequenz einer Unterscheidung in Nützliche und Unnützige einer Gesellschaft. Da die Sicherung des menschlichen Daseins nicht mehr Aufgabe des Staates (oder überhaupt gesellschaftlicher Auftrag) ist, sondern der privaten Initiative (gerne ehrenamtlich) überlassen wird, wird auch sie ökonomischen Kategorien unterworfen. Die Entscheidung der Essener Tafel ist insofern konsequent, als dass in der Logik der neoliberalen Ökonomie Güter stets knapp sind und der Zugang zu ihnen daher limitiert werden muss. Der Betreiber der Essener Tafel hätte auch das Alter der um Speise Anstehenden oder das Geschlecht als Selektionskriterium nehmen können, das Ergebnis wäre zwar jeweils ein anderes gewesen, aber immer wäre es darum gegangen, Tugend und Moral einem ökonomischen Kalkül zu unterwerfen.
»Sehn Sie: Wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt nur so die Natur; aber wenn ich ein Herr wär und hätt’ ein’ Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt’ vornehm rede, ich wollt’ schon tugendhaft sein«, sagt bei Georg Büchner Woyzeck zum Hauptmann, der ihm vorwirft, keine Tugend und keine Moral zu kennen. Die Empörung über die Entscheidung des Betreibers der Essener Armenspeisung bleibt daher wohlfeil, solange sie nicht die Verhältnisse benennt, auf denen sie gründet.
Dieser Ticketmentalität entspricht aber auch die sprachliche Zurichtung bei der Beschreibung der Essensausgabe an Arme. An den »Tafeln«, die es seit gut 25 Jahren in Deutschland gibt, bekämen die Bedürftigen ihr Essen für wenig Geld - oder gar kostenlos, las man in den vergangenen Tagen immer wieder, wenn von dieser Armutsindustrie berichtet wurde. Die aber ist Ausdruck und Ergebnis von Staatsversagen und nicht Errungenschaft einer solidarischen Gesellschaft.
Das Wort »kostenlos« bleibt hierbei ein ewiges sprachliches Ärgernis. Eigentlich dürfte es dieses Wort gar nicht geben, denn nichts existiert, ohne dass es mit Kosten verbunden ist - und das nicht nur im ökonomischen Sinne. Dass man für etwas nicht bezahlen muss, bedeutet ja nicht, dass es keine Kosten bei der Herstellung bzw. bei der Bereitstellung verursacht hätte. Wer also behauptet, eine Dienstleistung oder eine Ware könne »kostenlos« sein, bestätigt nur die ideologische Verschleierung. Auch das Essen, das bei der Armenspeisung in Deutschland ausgegeben wird, ist nicht kostenlos; es wurde bereits bezahlt von jenen, die es gekauft haben, und es hat Kosten verursacht bei der Herstellung, beim Vertrieb und beim Verkauf.
Selbst in einem nicht-monetären Sinn gibt es nichts Kostenloses, da alles menschliche Tun mit Aufwand und Mühe verbunden ist. Man müsste im Falle der Armenspeisung also richtigerweise von einem »preislosen Essen« sprechen.
Aber der Begriff »kostenlos« hat sich derart eingebrannt in die neoliberal verblendete Welt, dass selbst die Forderung nach Vergesellschaftung oder Wiedervergesellschaftung öffentlicher Güter nicht ohne diese sprachliche Verschleierung auskommt. Ein Beispiel: Derzeit wird in der Politik diskutiert, die Zugangsvoraussetzungen zur Nutzung der Verkehrsmittel des öffentlichen Personennahverkehrs zu ändern. Damit will man ein mögliches Fahrverbot für dieselbetriebene Pkw in den Innenstädten verhindern. In den vergangenen Tagen war diesbezüglich in allen Medien (ja, allen, auch in dieser Zeitung!) vom kostenlosen öffentlichen Nahverkehr die Rede. So wie es kein kostenloses Essen bei einer »Tafel« gibt, existiert jedoch auch kein kostenloser Nahverkehr. Es kann einen fahrscheinlosen Nahverkehr geben, so wie es ja auch einen gebührenfreien Pkw-Verkehr gibt. Die Kosten, die dieser verursacht (Bau von Straßen und deren Unterhalt) werden über Steuern finanziert, Geld also, dass jeder von uns hergeben muss, sei es als Steuer auf den Lohn oder das Gehalt oder als Mehrwertsteuer beim Erwerb von Waren und Dienstleistungen. Die Entscheidung, ob eine öffentliche Dienstleistung gegen Gebühr oder steuerfinanziert bereitgestellt wird, ist eine politische. Würde man etwa die Rundfunkgebühr, die der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks dient, abschaffen, wären die Kosten, die mit der Bereitstellung des Medienangebots verbunden sind, ja immer noch vorhanden; man müsste dieses dann, wenn man ARD, ZDF und den Deutschlandfunk noch als Sender erhalten will, über Steuern finanzieren.
Dass man jetzt dennoch vom »kostenlosen« oder »kostenfreien« Nahverkehr spricht, hat seinen tieferen Grund in der Aufspaltung des Lohns. Wir erhalten nicht den Bruttolohn ausgezahlt, sondern ein Nettogehalt, von dem Steuern und Abgaben bereits abgezogen wurden. Uns erscheint dieses Nettogehalt als eigentlicher Arbeitslohn, obwohl er das nicht ist.
Dass wir für die Benutzung von Straßen in der Regel nicht in Form einer Gebühr (Maut) bezahlen müssen (zumindest in Deutschland, anderswo in Europa ist das anders), verleitet viele deshalb zur irrigen Annahme, die Benutzung des Straßennetzes erfolge kostenlos. Auch hier verdeckt der ideologische Schleier die Sicht auf die wahren Verhältnisse. Man schimpft dann über die Erhöhung der Preise für ein Bahnticket, blendet aber aus, dass ein großer Anteil der Steuern für Subventionen in die Auto-Industrie verwendet wird. Den einen Preis (den der Bahnfahrkarte) muss man mit einem Teil seines Nettolohns bezahlen, den anderen (den für die Subventionen) aus dem individuell nicht quantifizierbaren Steueranteil, der auf der Lohnabrechnung oder auf der Supermarktquittung zwar auftaucht, aber als etwas Äußerliches, nicht Eigenes wahrgenommen wird.
Dieser Irrtum verleitet leicht dazu, den angeblich kostenfreien (in Wirklichkeit aber fahrscheinlosen Nahverkehr) abzulehnen, denn intuitiv weiß der gespaltene Verstand, dass es etwas Kostenfreies nicht geben kann. Und er verleitet dazu, die Armenspeisung nicht als Grundrecht zu sehen, sondern als Almosen. Wer etwas erhält, das nichts kostet, so das gefühlskalte Kalkül, ist der Gnade der Gebenden und ihren Selektionskriterien ausgeliefert.
Ist die Entscheidung des Betreibers der »Tafel« in Essen, jene, die keinen deutschen Pass haben, von der Armenspeisung auszuschließen, rassistisch motiviert? Das ist die falsche Frage.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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