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Beim Mindestlohn unter Mittelmaß
Gemessen am nationalen Gehaltsniveau ist der Mindestlohn in Deutschland relativ niedrig
Die Steigerung beim Mindestlohn in Deutschland bleibt einer Studie zufolge hinter der Entwicklung in anderen EU-Staaten zurück. In 19 der 22 EU-Mitgliedsländer, die über eine gesetzliche Lohnuntergrenze verfügen, sei diese im vergangenen Jahr oder zu Beginn des laufenden Jahres angehoben worden, heißt es in einer am Mittwoch vom gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) veröffentlichten Vergleichsstudie – und zwar im Mittel um 4,4 Prozent. In Deutschland sei der Mindestlohn nicht gestiegen – und die Bezieher hätten wegen der Inflation sogar einen leichten Reallohnverlust erlitten. Im April 2016 arbeiteten in Deutschland knapp 1,8 Millionen Beschäftigte für Stundenlöhne in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns. Mehr als vier Millionen Erwerbstätige verdienten sogar noch weniger, wie eine Umfrage des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ergab.
In der Bundesrepublik beträgt der gesetzliche Mindestlohn derzeit 8,84 Euro pro Stunde. In Belgien, Irland, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden ist die Lohnuntergrenze laut WSI-Mindestlohnbericht deutlich höher. In Irland haben Beschäftigte zum Beispiel Anspruch auf 9,55 Euro pro Stunde, in Frankreich sind es 9,88 Euro. Lediglich in Großbritannien ist der Stundenlohn, auf den Beschäftige ab 25 Jahren Anspruch haben, etwas niedriger als hierzulande.
Auch gemessen am nationalen Einkommensniveau ist der deutsche Mindestlohn eher bescheiden. Die WSI-Forscher haben hierzu Angaben für 2016 vorgelegt, dem letzten Jahr, für das es internationale Vergleichsdaten gibt. Demnach entspricht der deutsche Mindestlohn rund 47 Prozent des mittleren Einkommens von Vollzeitbeschäftigten in der Bundesrepublik. Damit liege er deutlich unter der Niedriglohnschwelle, so die WSI-Wissenschaftler. Nach Ansicht von Armutsforschern sollte ein Lohn, der zum Leben reicht, mindestens 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns ausmachen, heißt es in der Mitteilung des Instituts, das zur Hans-Böckler-Stiftung gehört.
Im Juli wird in Deutschland die Mindestlohnkommission ihre Empfehlung für die nächste Erhöhung abgeben. Bislang orientiert sie sich dabei allein an der Entwicklung der Tariflöhne in den zurückliegenden zwei Jahren. Somit müsste der Mindestlohn ab 2019 auf über neun Euro pro Stunde steigen. Die WSI-Forscher fordern jedoch eine deutliche Erhöhung über die Tarifentwicklung hinaus. Es müsse »überlegt werden, ob die derzeit außerordentlich günstigen ökonomischen Rahmenbedingungen nicht dafür genutzt werden können, um das niedrige deutsche Mindestlohnniveau über die normale Anpassung hinaus auch strukturell zu erhöhen«.
Diese Position vertritt auch der DGB, der mit einem Mitglied in der Mindestlohnkommission vertreten ist. »Mittelfristiges Ziel muss es sein, den Mindestlohn existenzsichernd zu machen«, sagte DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell gegenüber »nd«. »Wenn er sich alle zwei Jahre nur um 20 oder 30 Cent pro Stunde erhöht, wird das nicht gelingen.« Also müssten die Schritte größer werden.
Die Mindestlohnkommission hat dabei durchaus Bewegungsfreiheit. »Laut gesetzlichem Auftrag soll sie nicht nur die tarifliche Lohnentwicklung berücksichtigen«, betont Körzell, »sondern auch die Entwicklung von Beschäftigung, Wettbewerbsbedingungen und einen angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.«
Die SPD, die das Mindestlohngesetz im Bundestag erstritten hat, äußert sich in der Frage zurückhaltend. Der Mindestlohn sei eine »Haltelinie« nach unten und bekämpfe Dumpinglöhne effizient, erklärte Kerstin Tack, Sprecherin für Arbeit und Soziales der SPD-Bundestagsfraktion gegenüber dieser Zeitung. Welche Erhöhung angemessen wäre, dazu will sich die SPD-Politikerin nicht äußern. »Die Politik legt aus guten Gründen keine Löhne fest«, so Tack und verweist stattdessen auf die Tarifentwicklung, an der sich die Kommission orientiere.
Die Linkspartei hält zwölf Euro pro Stunde für nötig, um Niedriglöhne in Deutschland tatsächlich zu bekämpfen. Die Höhe sei nicht nur für hiesige Beschäftigte relevant. »Der hohe deutsche Exportüberschuss resultiert auch aus niedrigen Löhnen und setzt andere EU-Länder unter Druck«, erklärte Sabine Zimmermann, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, gegenüber »nd«.
Der WSI-Bericht macht denn auch deutlich, dass das Einkommensgefälle innerhalb der EU noch sehr groß ist. So liegen die Mindestlöhne in Südeuropa sowie in Ost- und Mitteleuropa teils weit unter fünf Euro pro Stunde. In Griechenland haben Beschäftigte gerade einmal Anspruch auf einen Bruttostundenlohn von 3,39 Euro. Dort habe die sogenannte Troika im März 2012 eine Kürzung erzwungen, seither sei der Satz eingefroren, schreiben die Forscher Malte Lübker und Thorsten Schulten. Auch in Portugal und Spanien, wo Bürgerinnen und Bürger ebenfalls unter der Eurokrise gelitten haben, sind die Mindestlöhne mit 3,49 Euro (Portugal) und 4,46 Euro (Spanien) sehr niedrig. Von den 22 EU-Ländern mit einem Mindestlohn gilt in Bulgarien der niedrigste Satz. Hier haben die Beschäftigten Anspruch auf gerade einmal 1,57 Euro pro Stunde. Das ist extrem wenig, auch wenn man die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten berücksichtigt, ergab die Studie. Der höchste Satz innerhalb der EU gilt in Luxemburg (11,55 Euro).
Im gerade ausgehandelten Koalitionsvertrag von Union und SPD findet sich die Absicht, »einen Rahmen für Mindestlohnregelungen« in den EU-Staaten zu entwickeln. Gemeinsame europäische Kriterien für angemessene Mindestlöhne sind auch nach Ansicht der WSI-Forscher ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung der Lohnentwicklung in Europa.
Grafiken: Moritz Wichmann
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