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»Ich liebe Sensationen!«
Deutsches Theater Berlin: Gregor Gysi im Gespräch mit Rosa von Praunheim
Auch ein Totenkopf glitzert goldig am Boden - es ist, als hätten die Papierblumen des Bösen die Seite gewechselt: Boutiquenflair statt Baudelaire. Der Filmemacher, Maler und Autor Rosa von Praunheim wirkt immer wie ein Kind, das just am Zeugnistag schulfrei hat. Oder wie einer, der sich vor Antworten auf schwierige Fragen erst mal eine Praline in den Mund schiebt. Gern lächelt er in die Verklemmtheit von Menschen hinein, wenn er sie nach deren erstem Sex fragt oder wissen will, ob sie dabei auch reden. Er will’s ja gar nicht wirklich wissen, er will »nur«, dass mit der Bloßlegung des Intimsten unsere Abschottungsreflexe geradezu gewaltsam beschädigt werden und ins Beben kommen.
Geboren wird Holger Radtke 1942 im Zentralgefängnis Riga. Betrieb die Mutter Schwarzmarktgeschäfte? Wer weiß. Vater unbekannt. »Das Gefängnis, für mich der Wahnsinnsort für die Wahrheit der bittersten Gleichzeitigkeit: mein Säuglingsschrei und vielleicht ein paar Wände weiter Schreie von Gefangenen.« Ein glücklicher Umstand beschert ihm gütige Herzen: Ein Ehepaar nimmt das Kind einfach mit. Erst Ostberlin, dann Frankfurt am Main. Der Name eines »der hässlichen Stadtteile«, Praunheim, und jener rosa Winkel, den die Homosexuellen im KZ tragen mussten, liefern den späteren Künstlernamen. Ehe es nun zu ernst wird, greift der Buntvogel zu einem Hut, selbst geschriebene Gedichte darin. »Greif zu, Gregor.« Duzen ist Prinzip. »Vielleicht traust du dich, eins vorzulesen.« Gysi greift, liest schweigend, faltet das Papier lieber wieder zusammen. Indes lässt Praunheim den versgefüllten Hut im Publikum kreisen.
Erst im Jahre 2000 eröffnete ihm die Pflegemutter, er sei nicht ihr Sohn. »Sie war schon 94, wohnte bei mir und wollte nicht mit einer Lüge sterben. Enttäuschung? Erschütterung? Nein, ich liebe Sensationen!« Als er daraufhin den Spuren der leiblichen Mutter nachging, stieß er auf eine psychiatrische Klinik in Berlin-Wittenau. Und begegnete der geläufigen »Aufarbeitung«: Dort hatten nach dem Krieg die gleichen Ärzte praktiziert, die unter Hitler Euthanasie betrieben.
»Ich galt als dumm.« Fazit einer Schulkarriere. Gysi lacht, im Atemholen gerät er unversehens in einen Umkehrtrick seines Gegenüber: Plötzlich ist es Praunheim, der fragt: nach so kleinen Alltäglichkeiten wie Stasi und - Geschlechtsverkehr. Gysi antwortet souverän - zu ersterem Thema. Erbittet dann schnell wieder die Gesprächsführung. Und Praunheim erzählt. Dass er Sex mit Frauen hatte, er sich aber »nie verlieben konnte; es hat sehr lange gedauert, bis ich merkte, dass auch ich liebenswürdig bin«. Bis Mitte der neunziger Jahre fühlte er sich als offiziell Verbotener, »in der Bundesrepublik saßen mehr Homosexuelle hinter Gittern als in der NS-Zeit«. Jetzt wieder Auflockerung: Er reicht DVDs mit seinen Filmen ins Publikum. Und Gysi nimmt sich jetzt tatsächlich einen Hut. Ein Spielverderber bin ich nicht, sagt diese Geste. Und legt den Hut schnell wieder ab.
Über 150 lange und kurze Spiel- und Dokfilme hat Praunheim gedreht (herrliche Titel: »Unsere Leichen leben noch«, »Meine Oma hatte einen Nazipuff«, »Kühe vom Nebel geschwängert«). Seine Skandalkraft lag in der Entschiedenheit, mit der er Lesben und Schwule aufforderte, »nach draußen zu gehen«, sich nicht im »Glamour dunkler Ecken« zu verpuppen. Er stritt für Aids-Prävention, sang das Loblied auf ältere vitale Frauen, schuf Filmporträts über Charlotte von Mahlsdorf und Lotti Huber. Lebenslust ist Präsenzlust - immer geht es darum, sich »nach vorn zu kämpfen«. Gregor Gysi kennt das, wenn auch in anderen Zusammenhängen: »Du musst, wenn es an körperlicher Größe fehlt, in die erste Reihe, sonst siehst du ja nüscht.« Und wirst nicht gesehen, möchte man hinzufügen.
Der freundliche, lächelnde, in sich ruhende Paradiesvogel, nein: Paradiesmensch, macht den Eindruck, als würde er sich in den Malbüchern einer Vorschulklasse am wohlsten fühlen. Er attackiert im Gespräch den Kapitalismus (»der hat Neid und Missgunst zementiert«), er träumt von einer »Armee der Senioren« gegen Ausgrenzung und Pflegeroutine, er mag grundsätzlich die Ehe nicht und hat im Wohnungsflur eine Puppe, gegen die er boxt (»das hilft kurzzeitig auch bei Wutanfällen gegen Trump«). Jungen Leuten, »verstrickt in den Wohlstand«, wünscht er wieder mehr politisches Bewusstsein - und nun geht die Rede von seiner siebenjährigen Professur an der Filmhochschule Babelsberg. Er hat seine Studenten zuerst in ein Domina-Studio geführt: »Denn als freier Künstler musst du vor allem eines lernen: mit Freude zu leiden!« Gegen die nervös machenden Verführungen der Kommunikationstechnik »sperrte« er Studenten mehrere Tage in Zellen eines ausgedienten Gefängnisses. Konzentrationskloster. Phantasieschule. »Sie wollten gar nicht wieder raus.«
Natürlich ist Tabupflege ein unabdingbares Kulturverhalten, aber dieser grelle oder sanfte Pionier der Schwulenbewegung hat mit Regelbrüchen auf prononciert peinliche, peinigende Weise Minderheitenwürde gestärkt, Außenseiter in die Mitte gelockt. Und sich heftigen Angriffen ausgesetzt, als er etwa im Fernsehen Hape Kerkeling und Alfred Biolek ohne deren Einwilligung outete. »Ein Verzweiflungsschrei auf dem Höhepunkt der Aids-Krise.« Gegen Verstellungsnöte. Gegen alles, was Isolation fördert. Einer von Praunheims Filmen heißt: »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt«.
Du siehst diesen kindlichen Exzentrischen und ahnst: wie viel Kampf, wie viele Schläge. Geprüftes Leben, als trainierte auf einer Aschenbahn, fernab aller Siegerpodeste, einsam ein einzelner Laufschuh. Eine bleibend übertragbare Wahrheit der Geschichte: Ein paar wenige, offen mutige Verrückte gehen voran - auf sie beruft sich später, wenn Kämpfe gewonnen sind, der große Rest der schweigend Vernünftigen. Die stets dann, wenn einer ganz bei sich ist, warnend meinen: Komm endlich zu dir!
Auch ich hatte in den Hut mit den Praunheim-Gedichten gegriffen. Erwischte die Nr. 28: »Salbei ist billig/ Und Adrenalin umsonst/ Sex ist unerschwinglich/ Wenn man ihn im All/ Ausüben will.«
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