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Beim Barte des Propheten

Vor 135 Jahren starb Karl Marx - ohne Löwenmähne. Die letzte Reise des Philosophen führte ihn nach Algier

  • Marlene Vesper
  • Lesedauer: 8 Min.

Ein Mann um die vierzig geht schnellen Schritts auf den Neuankömmling zu. Albert Fermé, ein französischer Jurist, seit zwölf Jahren in Algerien, hat Karl Marx erwartet. Er erkennt ihn sofort, den bekannten Führer der sozialistischen Internationale. Herzlich begrüßt er ihn, entbietet dem Weitgereisten ein freundschaftliches »Willkommen in Algier«. Tags zuvor erst hat ihn ein Brief aus Paris über die bevorstehende Ankunft des deutschen Philosophen unterrichtet. Mit großer Freude nimmt sich Fermé der Bitte seines langjährigen Freundes Charles Longuet an, der mit Jenny, der ältesten Tochter von Marx verheiratet ist. Ihm ist es eine Ehre, Marx während seines Aufenthalts in Algier zu betreuen, dafür Sorge zu tragen, dass dessen Kur Erfolg beschieden ist. Er hat für ihn ein Quartier im »ersten Haus am Platz« besorgt, im »Hotel d’ Orient« keine hundert Schritte entfern vom Hafen auf dem Boulevard de la République.

Am 20. Februar 1882 um halb vier in der Frühe hat das Dampfschiff »Said« endlich sein Ziel erreicht. Nach über 34 Stunden Fahrt. Marx ist froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Fermé führt den Gast über die Treppe an der Pêcherie, dem schon zu Zeiten der Korsaren berühmten Fischereihafen, zum Hotel, das ein Jahr später zu Algiers Bürgermeisterei wird. Marx wird nicht lange dort verweilen, sondern nach einigen Tagen in eine billigere Pension umziehen. Doch zunächst schickt er aus aus dem »Hotel d’Orient« ein Telegramm an die Seinen, seine Ankunft in der Fremde zu vermelden. Dies bestätigt ein Brief von Engels, datiert auf den 22. Februar, an Eduard Bernstein: »Marx am Montagmorgen in Algier gelandet, wohin ich und die Ärzte ihn immer haben wollten, aber er hatte keine rechte Lust.«

Schon zum Jahreswechsel 1881/82 hatten ihm seine Familie und Freunde einen Genesungsurlaub verordnet - auf der Isle of Wight an der Südküste Großbritanniens. Eleanor, die jüngste Tochter, genannt »Tussy«, war sein Reisecompagnon. Kaum ein Brief verließ die Insel nach London, den Marx nicht mit dem Wunsch beendete, bald wieder aktionsfähig zu sein. Auch Engels wünschte sich nichts mehr, als Marx bald wieder gesund und tatkräftig neben sich zu wissen. Mitte Januar 1882 kehrte Marx kurzentschlossen nach London zurück. Die folgenden drei Wochen offenbarten jedoch, dass sich keine Besserung eingestellt hatte. Die Krankheit ist ein kategorischer Gebieter, die unvermindert anhaltende starke Reizbarkeit der Atemwege deutet auf eine bereits chronisch gewordene Bronchitis hin. Ärzte und Freunde raten dem 64-Jährigen zu einer längeren Kur. Man debattiert in London, wägt die diversen Orte ab, will das sicherste und angenehmste Reiseziel für Marx finden. Es gilt auch, darauf zu achten, den in vieler Herren Ländern von den Regenten als »Umstürzler« bekannten Mann nicht neuer polizeilicher Verfolgung und Bespitzelung auszuliefern.

Freunde und Genossen in aller Welt bangen um Gesundheit und Leben des ernstlich erkrankten Marx. Als einer der Ersten erfährt von diesem selbst per Brief vom 23. Januar 1882 Pjotr Lwarow, der 1871 auf den Barrikaden der Pariser Kommune gestanden hat, wohin Marxens letzte Reise geht: »Es wird jetzt bezweckt, mich irgendwo nach dem Süden zu senden, vielleicht nach Algier. Die Wahl ist schwer, weil Italien mir unzugänglich ist (in Mailand ward ein Mann verhaftet wegen Namensähnlichkeit mit mir), ich kann nicht einmal per steamer (Dampfschiff, M.V.) von hier nach Gibraltar, weil ich keinen Paß habe, und dort verlangen selbst die Engländer Paß. Trotz aller ärztlicher Bedrängnis und der mir nächststehenden Personen würde ich auf solche zeitverschwenderische Operation keineswegs eingehen, wenn diese verfluchte ›englische‹ Krankheit einem nicht das Gehirn angriffe. Außerdem würde ein Rückfall, selbst wenn ich davon käme, noch mehr Zeit kosten.«

Ein erstes und einziges Mal weilt nun also Karl Marx außerhalb Europas - zu einem »Gesundheits-Wiederherstellungsmanöver«, wie er es nennt. 16 überlieferte Briefe geben Auskunft über seine 72 Algier-Tage. Neun sind an Engels in London adressiert, fünf an Tochter Jenny Longuet in Argenteuil bei Paris, einer an Laura Lafargue und einer an Schwiegersohn Paul Lafargue, ebenfalls mit Londoner Adresse. Marx hat gewiss wesentlich mehr Briefe versandt.

Seine Bezugspersonen in der nordafrikanischen Stadt am Mittelmeer sind außer Fermé, dem an Algiers Zivilgericht tätigen Juristen, der ihn am Hafen empfing, die Mitbewohner seiner Hotel-Pension »Victoria«, gelegen hoch über der Stadt, eine Villa im maurischen Stil auf dem Fels von El Biar. Sodann Professor Durando, der Chef des Jardin d’Essai du Hamma, des Botanischen Gartens, in dem Marx zu wandeln beliebt, Dr. Charles Stéphann, sein Arzt in Algier, sowie E. Dutertre, ein Fotograf. Von ihm stammt die letzte Aufnahme des Philosophen aus Trier. Schlohweiß das Haar, winzige Lachfältchen um die Augen, das Antlitz von freundlicher Güte, gütiger Freundlichkeit. Das Abbild eines außergewöhnlichen Menschen. Wie kam es zu dieser letzten Fotografie?

Drei Tage nach seiner Ankunft erlebt Marx heiße Sonnentage. Daraus resultiert der Entschluss: Haarpracht und Löwenmähne müssen weg. Einem Brief an Engels vom 28. April 1882 fügte Marx ein aufklärendes »Apropos« hinzu: »Apropos: vor der Sonne habe ich den Prophetenbart und die Kopfperücke weggeräumt, aber (da meine Töchter dies besser haben) mich photographieren lassen, vor Haaropfer auf Altar eines algerischen Barbiers. Ich erhalte die Photogramme nächsten Sonntag (30. April). Sende Euch specimina ...«

Das Originalfoto schickt Marx mit eigenhändiger Widmung »To my dear Cacadou« an Laura. In dem Brief an seine zweitälteste Tochter vom 6. Mai 1882 fügt er scherzhaft hinzu: »... keine Kunst kann den Menschen schlechter aussehen lassen.« Natürlich bekam einen Abzug auch »mein liebes Jennychen«, die Lieblingstochter, von »Old Nick« (neben »Mohr« Spitzname für Marx). Wie viele Abzüge mag Marx in Auftrag gegeben und abgeschickt haben? Und wer war der Fotograf?

Ich konsultiere Monsieur Hachi vom Stadtarchiv in Algier, nehme Einblick in Wählerlisten, Geburtenregister und Kirchenbücher. Abertausende von Namen, gebündelt nach Geburt und Tod, so viele menschliche Schicksale. Ich stoße auf einen Dutertre, von Beruf Koch, auf einen weiteren, hinter dessen Namen »Coiffeur«, Friseur, vermerkt ist. Kein Inhaber eines Fotoateliers. So bleibt Monsieur Dutertre, Autor des letzten Fotos von Marx, ohne einen Vornamen. Hingegen erfahre ich eine andere Überraschung.

Am 1. März 1882 schreibt Marx aus Algier an Engels: »Unterdessen mein Husten ward schlimmer von Tag zu Tag - vor allem ein gewisses unangenehmes Gefühl, daß meine linke Seite ein für alle mal von der Krankheit verdorben ist ... Ich ließ daher Dr. Stèphann kommen (der beste Arzt von Algier).« Marx ist beeindruckt, wie dieser die Diagnose stellt und dass die von ihm verordneten Medikamente schon nach den ersten Tagen deutliche Linderung bringen. Das Schreiben an Engels beendet er eiligst: »Ich muß abbrechen, weil ich nach Algier zur Apotheke muß.« Monsieur Strohl ist der ihm von Dr. Stéphann wärmstens empfohlene Pharmazeut, seine Apotheke in Bab-Azoun die renommierteste in Algier.

Ich suche den christlichen Friedhof der Stadt auf, der inzwischen museal anmutet, und entdecke das schmucklose Grab von Charles Marchall, dem Chefredakteur der von Marx in Algier bevorzugt gelesenen Tageszeitung »Le Petit Colon Alérien«. Und dann, unter Tausenden Gräbern, stehe ich vor weißem Marmor, darin eingemeißelt: »A la memoire du docteur Eugène Stéphann«, mit den Geburts- und Sterbedaten des Arztes sowie denen seiner Frau. Entdeckerlust, Entdeckerfreude bemächtigst sich meiner. Ich hinterlasse Blumen.

Als ich nach Wochen noch einmal den Friedhof aufsuche, läuft mir dessen Verwalter, Mohammed Gabour, aufgeregt entgegen. Er schwenkt einen Zettel, darauf ein Name und eine Nummer. »Eine alte Dame dankt Ihnen für die Blumen - vergessen Sie nicht, anzurufen!« Mein Anruf bringt die unglaubliche Nachricht: »Sie sprechen mit Madame Varaigne. Ich bin die Tochter von Dr. Stéphann. Ich bin ja so glücklich, dass jemand sich meines Vaters erinnert.«

Sogleich ist ein Rendezvous vereinbart. Vadine Varaigne, eine zierliche Person mit großen blauen Augen, adrett gekleidet, charmant und lebhaft, obwohl schon über 90, erzählt mir von ihrem Vater, »ein guter Mensch« und ein »wirklich erstklassiger Arzt«. Dann will sie wissen, wie meine Verbindung zu ihrem Vater sei. Ich berichte von Karl Marx, in dessen überlieferten Briefen aus Algier Dr. Stéphann mit nicht weniger als 146 Zeilen bedacht ist, und zitiere aus seinem Lob für den Arzt. Meine Gesprächspartnerin sinnt vor sich hin und fragt dann zweifelnd: »Und das hat wirklich Ihr Marx über Papa und seinen Vater geschrieben?« Ich bejahe und zeige ich ihr eine Kopie von Marxens Brief vom 18. April 1882 an Engels und übersetze ins Französische: »Auf nähere Examination - ich hatte bisher nicht befragt - sagte mir Stéphann, obgleich ganz des Deutschen unkundig, Sohn eines Deutschen sei. Sein Vater aus Pfalz (Landau) war eingewandert in Algier.« Vadine Varaigne schaut ungläubig. Sie wusste nicht, dass ihr Großvater ein Deutscher war. Auf meine Nachfrage, warum sie nach der Unabhängigkeit Algerien nicht wie die meisten Franzosen ins Mutterland übersiedelte, antwortet sie, dieses sei für sie Algerien: »Ich bin hier geboren, hier lebe ich, hier will ich sterben.«

Doch zurück zu Marx: Er hat trotz Krankheit so einiges in Algier erlebt, sich immer mal wieder eine Auszeit von seiner Arbeit am zweiten Band des »Kapital« gegönnt. Er betrat mit hundert anderen Schaulustigen den eines Tages am Kai liegenden russischen Panzerkreuzer »Peter der Große« und besuchte später auch dessen französisches Pendent »Colbert« im Hafen an. Er besuchte nicht nur den Botanischen Garten, sondern schlenderte auch über die Basare der Stadt. Und verbrachte viel Zeit in der Bibliothek. Schließlich ist Abschied von Algier, »La Blanche«, die weiße Stadt, zu nehmen. Marx kauft noch ein paar Souvenire ein, orientalischen Schmuck für die Töchter und einen arabischen Krummdolch für Engels.

Am 2. Mai 1882, punkt sechs Uhr abends, lichtet die »Peluse« mit Marx an Bord den Anker. Als erster aus der Familie schließt ihn Schwiegersohn Paul Lafargue in Paris in die Arme, der sogleich Engels brieflich informiert: »Marxens Anblick hat mich zutiefst erfreut - er hält sich gerade, seine Augen sind funkelndes Leben, mit einem Wort, er scheint viel gekräftigter als damals, als er London verließ ... Außerdem muß ich Dir sagen, daß Marx braun wie eine Kastanie ist, er ist jetzt ein wirklicher Mohr.«

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