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  • Schwangerschaftsabbruch in Deutschland

Schwanger werden zu können verbindet

Kerstin Wolter und Alex Wischnewski über sexuelle Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit

  • Kerstin Wolter und Alex Wischnewski
  • Lesedauer: 5 Min.

Wieder hat die SPD einen Rückzieher gemacht: In der Debatte um das Werbeverbot für Abtreibungen fahren die Sozialdemokraten einen Zickzackkurs und sorgten erst am Dienstag für neue Schlagzeilen. Sie wollen nun doch keinen Gesetzentwurf zur Streichung des Paragrafen 219a einbringen. Die Debatte darüber zeigt, wie umkämpft das Thema Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland ist. Das liegt auch daran, dass die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Frauen ungewollte Schwangerschaften beenden können, weit über individuelle Freiheitsrechte hinausgeht. Sie öffnet die Debatte für Themen, die sonst weniger Aufmerksamkeit bekommen.

Mit dem Fall Kristina Hänel hat die Diskussion einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Ärztin wurde verurteilt, weil sie auf ihrer Webseite über die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen in ihrer Praxis informierte. Nach Paragraph 219a des Strafgesetzbuches ist das illegal. Angezeigt wurde sie von christlichen Fundamentalist*innen, die seit Jahren zusammen mit autoritären Rechten mobilisieren. Sie veranstalten sogenannte Märsche für das Leben, belästigen Frauen vor Beratungsstellen und Praxen und zeigen Ärzt*innen an, wenn sie über Abbrüche aufklären.

Kerstin Wolter und Alex Wischnewski
Kerstin Wolter arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der LINKE-Ko-Vorsitzenden Katja Kipping und hat das Bündnis für den »Frauen*kampftag« am 8. März mitgegründet. Alex Wischnewski engagiert sich im Netzwerk »Care Revolution«.

Breite Bündnisse für sexuelle Selbstbestimmung stellen sich ihnen entgegen und haben so erreicht, dass im Bundestag nun tatsächlich über die Streichung des Paragraphen 219a debattiert wird. Damit öffnet sich ein Möglichkeitsfenster, die Illegalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen insgesamt wieder aufs Tableau zu heben. Eine Situation, wie es sie seit Alice Schwarzers Kampagne »Auch ich habe abgetrieben« 1971 und der Auseinandersetzung über den Paragraphen 218 zu Beginn der 1990er Jahre nicht mehr gegeben hat.

Die Debatte über Abtreibung weist gleichzeitig über sich selbst hinaus. Schauen wir genauer hin, können wir in ihr den »Zusammenhang von Frauenunterdrückung und Produktionsverhältnissen, von Patriarchat, Kultur, Ideologie, Staat und Kapital, Privatem und Politischem« (Frigga Haug) erkennen. Die Regulierung von Abtreibungen stellt all dies in einem Brennglas dar.

So führt sie direkt zur Frage staatlicher Bevölkerungspolitik. Welchen Einfluss hat diese auf Fortpflanzung? Wer entscheidet über den Frauenkörper? Ehemann? Staat? Kirche? Wie groß ist der Einfluss der Religion auf staatliche Entscheidungen? Schließlich lehnt die katholische Kirche Abtreibungen als Sünde ab. Die evangelische Kirche dagegen akzeptiert Abtreibungen nur, wenn die körperliche oder seelische Gesundheit der Frau gefährdet ist.

Dabei haben Frauen schon immer abgetrieben, wenn es notwendig war. Nur leider viel zu oft illegalisiert unter lebens- oder zumindest gesundheitsgefährdenden Bedingungen. Es geht also auch um die Frage von Gesetzen und Justiz und um ein demokratisches und soziales Gesundheitssystem.

Der Kampf um die Streichung der Paragraphen 218 ff. hat daher in doppelter Weise enormes Potenzial. Zum einen können darüber zahlreiche Aspekte kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse in Frage gestellt werden. Zum anderen bietet der Kampf um sexuelle Selbstbestimmung die Möglichkeit für breite Mobilisierungen. Denn schwanger werden zu können, betrifft sehr viele Frauen und verbindet sie über sonstige Spaltungen und Weltanschauungen hinweg. Genau deshalb geht es aber auch darum, die Einsichten über die Zusammenhänge in gemeinsamen Kämpfen praktisch werden zu lassen.

Ein herausgehobenes Beispiel für solch eine Verbindung in der Praxis ist die aus den USA kommende Auseinandersetzung über »reproduktive Gerechtigkeit« (»reproductive justice«). Von schwarzen Frauen vorangebracht, bringt der Begriff sexuelle Selbstbestimmung, reproduktive – also mit der Fortpflanzung verbundene – Rechte und soziale Gerechtigkeit zusammen. Er weist darauf hin, dass für viele Frauen das Recht, Kinder zu bekommen und aufzuziehen, ebenso wenig eingelöst wird wie das Recht, ungewollte Schwangerschaften zu beenden. Ja, es sogar leichter erscheinen mag, ein Kind nicht zu kriegen, als es unter Bedingungen sozialer Marginalisierung großzuziehen.

Unter der Klammer der reproduktiven Gerechtigkeit könnten sich auch in Deutschland die Kämpfe für die Abschaffung des Paragraphen 218 mit Auseinandersetzungen verbinden, die bisher keine vergleichbare Lobby haben. So etwa der Streit um die Zwangssterilisation von Frauen mit Behinderungen. 2015 betraf das noch immer 26 Frauen, von denen viele mit entsprechender Unterstützung sicherlich Kinder großziehen könnten.

Selbst der Fachausschuss der Vereinten Nationen hat Deutschland deshalb bereits aufgefordert, den zugrundeliegenden Paragraphen 1905 des Bürgerlichen Gesetzbuches ersatzlos zu streichen. Hier fehlt es aber noch an gesellschaftlichem Druck auf den Gesetzgeber.

Eine andere Auseinandersetzung ist die Forderung nach dem gleichberechtigten Zugang von lesbischen und alleinstehenden Frauen zu reproduktiver Medizin. Wenn wir von reproduktiver Gerechtigkeit sprechen, gehört dazu auch die unter Kostendruck weichende Versorgung mit Hebammen und Geburtsstationen, was ein selbstbestimmtes Gebären immer unsicherer macht. Und obwohl von Regierungsseite stets die Unterstützung von Familien und Kindern beschworen wird, gibt es eine deutliche soziale Schieflage. Knapp ein Fünftel aller Kinder sind von Armut betroffen. Während der Kinderfreibetrag besonders gut verdienenden Paaren zugutekommt, wird das Kindergeld von Hartz IV abgezogen und erfahren Alleinerziehende zu wenig gesellschaftliche Unterstützung.

Der Begriff der reproduktiven Gerechtigkeit ist sehr hilfreich, all diese Kämpfe in einer Vision zu verbinden. Er verdeutlicht, dass unterschiedliche Betroffenheiten auch etwas Gemeinsames haben. Einzelne Akteur*innen reden bereits darüber, es fehlt jedoch noch an praktischer Bündnisarbeit. Das Recht auf freie Information über Schwangerschaftsabbrüche, um das derzeit gestritten wird, ist trotz der Entscheidung der SPD, möglicherweise erst der Anfang. Die Abtreibungsgegner*innen hätten sich mit ihren Anzeigen so am Ende noch ins eigene Fleisch geschnitten.

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